Heinz Sichrovsky zu Johannes Reuchlins 500. Todestag: Humanist erster Größe

Am 30. Juni jährt sich der Todestag des Humanisten und Philosophen Johannes Reuchlin, der auch Spuren in Linz hinterlassen hat, zum 500. Mal. Die Festrede bei der Gedenkfeier in der Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde hält der österreichische Kulturjournalist und Moderator Heinz Sichrovsky. Im Interview verrät der Gründungschefredakteur und Kulturchef des Wochenmagazins NEWS seine Beweggründe und warum er Reuchlin für einen der wichtigsten Aufklärer der Geschichte hält. 

Was sind Ihre Beweggründe, die Festrede zum 500. Todestag von Johannes Reuchlin zu halten?

Ich wurde angefragt, wohl wegen meiner Tätigkeit als Literaturkritiker und Sachbuchautor, die ich immer aus dem historischen Kontext verstanden habe. Mir war es dabei stets wesentlich um den Einfluss der Literatur auf den gesellschaftlichen Gesamtbefund zu tun. Und Reuchlin hat in gar nicht hoch genug zu veranschlagendem Ausmaß die Geschichte der menschlichen Zivilisation beeinflusst. Dass ich den Vortrag in den Räumen der Synagoge halten darf, ist eine Auszeichnung, die ich zu schätzen weiß.

Was möchten Sie in Ihrer Festrede ansprechen?

Es wird zunächst um jene Kundgebung der Barbarei und Entmenschung gehen, mit deren Bekämpfung sich Reuchlin in die Geschichte eingeschrieben hat: nämlich um den Antisemitismus, den meine Generation schon für weitgehend überwunden gehalten hat. Wir hofften, er wäre auf dem biologischen Weg der Selbstentsorgung, halbwegs unter Kontrolle in den Vereinslokalen mumifizierender SS-Kameradschaften. Diese Hoffnung hat sich als trügerisch erwiesen: Junge Menschen mit gelben Sternen verhöhnen auf Demonstrationen das Andenken der Opfer von Auschwitz, dazu kommt der zu lang bagatellisierte Antisemitismus von links, der sich als Antiisraelismus kostümiert und die Kumpanei mit dem immigrierten Judenhass sucht. Reuchlins fundamentale Forschungen im Bereich der jüdischen Sprache und Geistesgeschichte haben im 16. Jahrhundert katastrophale Entwicklungen verhindert oder wenigstens um vier Jahrhunderte verzögert: nämlich die Beschlagnahme und Verbrennung jüdischer Literatur. Er war kein Jude und bis zu seinem Tod ein leidenschaftlicher Christ, aber er hat sich bei einem jüdischen Arzt in Linz das fachliche Instrumentarium geholt, um dem Unverstand mit Argumenten begegnen zu können. Er war ein Humanist und Aufklärer erster Größe.

Wie haben Sie sich dem Thema Reuchlin angenähert? Was verbindet und verbinden Sie mit Johannes Reuchlin?

Anders als meine Tochter, die Germanistik, Hebräisch und Klassische Philologie studiert, bin ich auf die Mediävistik, die sich vielfach mit lateinischen Texten befassende Mittelalterkunde, nicht spezialisiert. Ich habe mir eher die Einflüsse der griechischen Antike auf die deutschsprachige Literatur vorgenommen. Aber zum Glück habe ich den idealen Begleiter ins Denken Reuchlins gefunden: Der Zionist Max Brod hat 1965 in Tel Aviv die bis heute gültige Reuchlin-Monographie geschrieben. Brod war Pragerdeutscher und Vertrauter Franz Kafkas, dessen letzten Willen, den gesamten Nachlass zu verbrennen, er nicht erfüllen wollte. Das war eine große Tat, denn sonst würden wir den „Prozess“, das „Schloss“ und „Amerika“ nicht kennen. Wie Reuchlin hat also auch Brod die Vernichtung unersetzlichen Kulturguts verhindert.

Als großer Humanist seiner Zeit wird Johannes Reuchlin auch oft als Brückenbauer bezeichnet – wer sind die Brückenbauer unserer Zeit?

Die stehen nur in sehr bescheidenem Ausmaß zur Verfügung. Das wesentliche Instrument des Humanismus und der Renaissance war die klassische Bildung, die Konzentration auf Philosophie, Staatskunst, Literatur und sprachliche Exzellenz. Im Zeitalter der sozialen Medien sind solche Anforderungen obsolet geworden. Wir konnten an Trump und Putin studieren, dass die für selbstverständlich gehaltenen Parameter der Zivilisation außer Kraft gesetzt sind. Brückenbauer? In den Papst habe ich Hoffnungen gesetzt, aber er scheint am Ende seiner Kräfte zu sein. Aus meinem persönlichen Umfeld vermisse ich schmerzlich Arik Brauer und Hugo Portisch. Die lebende Weltliteratur, mit der Österreich etwa in der Gestalt der Nobelpreisträger Elfriede Jelinek und Peter Handke gesegnet ist, wird im eigenen Land begeifert statt gefeiert. Konrad Paul Liessmann fiele mir noch ein, sonst lassen wir das Brückenbauen lieber den Zahntechnikern.

Welche Relevanz hat Johannes Reuchlin für uns in der Gegenwart und vor allem auch für die Stadt Linz?

In Linz wurde wurde ihm zuteil, was er möglicherweise nicht einmal mehr erhofft hatte: nämlich kundige Unterweisung im Hebräischen und in der jüdischen Geisteswelt durch den Leibarzt des Kaisers. An Reuchlins Dienstort Württemberg durften Juden nicht einmal Wohnsitz nehmen, sie waren nur als durchreisende Wanderhändler geduldet. Reuchlins Sehnsucht, sich insbesondere in die Geheimnisse der Kabbala zu vertiefen, schien unstillbar. Linz kann da ein bedeutendes Stück Kulturgeschichte für sich reklamieren. Und die Gegenwart täte gut daran, sich an Reuchlins Beispiel zu orientieren. Wo immer sie damit begänne, sie wäre auf dem richtigen Weg.

 

Das Johannes-Reuchlin-Denkmal vor der Schlosskirche in Pforzheim.

Gedenkfeier

Die Gedenkfeier zum 500. Todestag von Johannes Reuchlin findet am Donnerstag, 30. Juni, 10-12 Uhr, in der Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde (Bethlehemstraße 26, 4020 Linz) statt. Um Anmeldung unter anmeldung@johannesreuchlin.com wird gebeten. 

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