„Humanismus ist unsere gemeinsame Wertebasis“

Jürgen Grünwald

Kongress „Digitaler Humanismus“ 2022: Das Stift Wilhering und die Tabakfabrik Linz bringen zwei Welten zusammen – Ein Gespräch mit Abt Reinhold Dessl und Tabakfabrik-Chef Chris Müller

Von Reinhold Gruber

WILHERING/LINZ. Abt Reinhold Dessl steht in „seiner“ Kirche in Wilhering, hat eine 3D-Brille auf dem Kopf und bewegt sich virtuell durch den Kölner Dom, verändert auf Knopfdruck Perspektiven und Standpositionen. Er staunt über das, was in diesem Moment nur er sieht. Neben ihm erklärt Tabakfabrik-Chef Chris Müller mit seiner ihm eigenen Begeisterung, was in naher Zukunft alles möglich sein könnte. Die beiden Männer kommen aus verschiedenen Welten, und doch eint sie vieles. Das soll 2022 auch mit Tagen des digitalen Humanismus im Stift sichtbar werden.

OÖN-Redakteur Reinhold Gruber hat die beiden im Büro des Abtes in Stift Wilhering zum Interview getroffen.

OÖN: Wie haben sich Ihre Wege gekreuzt?

Reinhold Dessl: Begonnen hat alles durch einen Wilheringer Politiker, der Chris Müller bei einem Vortrag gehört hat. Er hat mir vorgeschlagen, dass wir uns die Tabakfabrik anschauen. Eine kleine Wilheringer Delegation ist dann nach Linz gefahren und so sind wir bekannt geworden. Ich habe dann eine Gegeneinladung nach Wilhering ausgesprochen und so ist das hin- und hergegangen und die Gruppen sind immer größer geworden. Das Ganze ist in einem Studientag gegipfelt, bei dem es darum ging, wie wir Wilhering als Kraftort ausbauen könnten. Dort ist dann die Idee der „Plattform Humanismus“ entstanden.

Chris Müller: Bei diesem Gegenbesuch wurden wir vom Abt durch das Stift geführt. Für einen Menschen, der historisch interessiert ist, ist es unglaublich, was man hier an Schätzen aus 875 Jahren Geschichte findet. Wenn man weiß, was Organisationen und Menschen mit Eifer, Fleiß, Liebe und Hingabe leisten müssen, damit es diese Geschichte überhaupt gibt, dann schätze ich das ungemein. Wir sind durch den neuen Museumstrakt des Stiftes gegangen und da gibt es einen Jahrhunderte alten Steinbrunnen, in den das Wasser digital hinein projiziert wurde. Abt Dessl hat dann zu mir gesagt, dass wir in der Tabakfabrik keine Kontemplation, also die Besinnung und Beschäftigung mit geistigen Inhalten haben. Dann bin ich nach Hause gefahren, im Wissen, dass das stimmt. Ich bin mit Kollegin Marlene Penn noch einmal nach Wilhering gefahren, um der Frage nachzugehen, wie wir unseren Leuten in der Tabakfabrik einen Raum, einen Tag anbieten können, um sich mit einem Thema total vertiefen zu können. Mein erster Zugang war, dass die Entspannung zu etwas führt, was wir in der Tabakfabrik nicht bieten können.

OÖN: Ist der Humanismus jener Bereich, in dem sich beiden Welten sehr schnell getroffen haben?

Reinhold Dessl: Der klassische Humanismus ist die gemeinsame Wertebasis von uns beiden. Auf der haben wir uns spontan getroffen. Es steht einem Stift gut an, eine Plattform für Humanismus zu sein, weil wir seit Jahrhunderten ein spiritueller Ort sind, aber auch einer der Bildung und der Kultur. Wir wollen einfach einen Beitrag zu einer menschenfreundlichen Welt leisten. Das ist die Aufgabe der Kirche, zur vollkommenen Menschwerdung beizutragen, obwohl wir das selbst auch nicht immer zusammenbringen. Wir sind Teil dieser Welt, aber das wäre unsere Mission. Da wollen wir uns verbünden mit anderen Institutionen.

Chris Müller: Was Abt Dessl sagt, würde ich dick unterstreichen. Wir haben uns viele Male getroffen. Das Interessante ist, dass man immer auf der Suche ist – auch nach Gott und dem Glauben. Ich kann nicht sagen, dass ich theologisch gebildet bin, aber ich habe versucht, Dinge philosophisch und ethisch zu ergründen. Die Beziehung ist immer enger geworden. Irgendwann habe ich in einem der Gespräche mit Abt Dessl gesagt, dass ich schon mit Sorge erfüllt bin, dass wir in einer Zeit leben, in der die Technik permanent voranschreitet. Sie ist und bleibt in der Welt. Das ist wie der Geist aus der Flasche. Man muss vorsichtig sein. Ich möchte mit der Tabakfabrik nicht nur Dinge erfinden, die vielleicht gegen uns verwendet werden oder nutzlos sind. Es ist die große Chance, Technologien zu finden wie früher einen Spaten, eine Sichel, einen Hammer, einen Rechen als Werkzeug. Wenn sich die Werkzeuge gegen uns wenden, haben wir ein Problem. Das betrifft Algorithmen. Unsere Kinder werden von Algorithmen erzogen. Die erste Google-Anfrage löst einen Reigen von Algorithmen aus. Das war ein Gesichtspunkt, dass das eigentlich nicht geht. Irgendwann sind wir zum digitalen Humanismus gekommen, auf den wir uns dann geeinigt haben. Dann haben wir gesagt, dass wir etwas gemeinsam machen. Die große Kraft einer riesigen Werkbank wie der Tabakfabrik und ein Ort von 875 Jahren Kompetenz und Kontemplation, wo jede Pore im Stuck von einer Geschichte zeugt.

OÖN: Auch die OÖNachrichten haben dann einen Beitrag dazu geleistet, oder?

Chris Müller: Ja, die OÖN haben die sechs neuen Menschenrechte (Umwelt, Digitale Selbstbestimmung, Künstliche Intelligenz, Wahrheit, Globalisierung, Grundrechtsklage, Anm.) in einer Samstag-Ausgabe plakativ gedruckt. Ich habe einen Ausdruck von der Seite als Geschenk für Abt Dessl mitgenommen und gemeint, man könnte die sechs neuen Menschenrechte diskutieren. Als wir uns getroffen haben, hat der Abt gesagt, dass wir auch Menschenpflichten zu den Menschenrechten brauchen. Das stimmt und mir war klar: Wenn wir etwas machen, weiß jeder, dass sich etwas ändern muss bzw. wird. Die Frage, was ich tun soll, damit wir diese Änderung formen und mitbestimmen können und nicht zwischen den Zahnrädern der Geschichte und der Technologie zermalmt werden, war die, die mich am meisten beschäftigt hat. Wenn es Rechte gibt, dann müssen wir die Pflichten finden, die uns die neuen Menschenrechte erkämpfen. So haben wir eine Basis gefunden, in welche Richtung es gehen könnte.

Reinhold Dessl: Das Wort Pflichten ist etwas in Verruf gekommen, aber von der Wortbedeutung ist es etwas ungeheuer Positives. Denn Pflicht kommt von pflegen. Eine Freundschaft muss gepflegt werden, sonst verkümmert sie. Und es ist auch wichtig in unserer Gesellschaft, in der es ein großes Anspruchsdenken gibt, worauf jeder ein Recht hat. Gott sei Dank. Aber es soll nicht nur ein Anspruchsdenken sein, sondern es ist auch klar, dass jeder etwas beitragen muss. Ich habe das mit meinen Mitbrüdern diskutiert und sie haben gemeint, dass das Gemeinwohl etwas fehlt. Es ist alles sehr individualistisch. Es geht um das Gemeinwohl, das nicht den Einzelnen auslöscht, wie in Diktaturen. Es gibt auch die Grenzen der Wünsche des Einzelnen, wenn es um das größere Gemeinwohl geht.

Chris Müller: Damit sind wir bei einer extrem spannenden Frage: Kann ein einzelner Konzern über alle Daten verfügen? Das brauchen wir nicht mehr zu beantworten, es ist so. Dürfen bzw. sollen wir das als Europa, als Welt zulassen? Strategisch gedacht haben wir die weltweite Verbindung durch Facebook, also das Internet, und dann haben wir eine Organisation, die auch weltweit verbunden ist. Wir müssen das größer angehen. Das steht dem Stift, der Tabakfabrik und der Gesellschaft in Linz gut an. Es wird eine große Chance werden für Europa. Wir können und brauchen nicht dem Silicon Valley nachhecheln. Wir haben weniger Geld, haben einen anderen Umgang und sie haben 30 Jahre Vorsprung. Aber als Dolmetschkabine, als Spiegel diese Erfindungen zu hinterfragen, dafür ist Europa super. Wenn man hier im Stift sitzt, merkt man schon, wie diese Ruhe wirkt, diese Größe des Raumes. So haben wir uns angenähert.

OÖN: Sie haben vom Individualismus gesprochen, zu der man auch Ich-Verliebtheit sagen könnte, die sich in den vergangenen 20 Jahren nicht zuletzt durch die Digitalisierung noch einmal stärker ausgeprägt hat. Ist es nicht schon zu spät, die Menschen wieder einzufangen und ihnen zu sagen, du bist nicht allein das Wichtigste, sondern es geht schon um eine Gemeinschaft, die in einer Beziehung, in der Familie beginnt. Ist noch Zeit zur Veränderung?

Reinhold Dessl: Es ist nie zu spät, Schritte zu setzen. Man muss jetzt beginnen. Der Jakobsweg ist vielen Menschen zu weit, aber er beginnt mit dem ersten Schritt.  So wollen wir auch einen kleinen Pilgerweg beginnen, mit einzelnen Schritten. Das Grundcredo ist: vom Ich zum Du, vom Ich zum Wir. Die Technik dient dem Menschen und der Mensch soll nicht von der Technik beherrscht werden. Das ist der Grundzugang für dieses gemeinsame Projekt.

OÖN: Verlieren wir nicht durch die Digitalisierung und den schier unendlichen Möglichkeiten, was wir damit tun können, genau das, wofür wir Menschen sind?

Chris Müller: Ich glaube und hoffe es auch, dass es nie zu spät ist. Es geht jetzt nicht um die vergangenen 25 Jahre, sondern um die nächste Generation, um die ersten Schritte. Sie müssen passieren. In jedem Tal, in jedem Dorf, in jeder Region sind Menschen, die sagen, dass es nicht mehr so weitergehen kann. Da entwickelt sich schön langsam eine Sammelbewegung. Wir wollen einen Ort bieten für diese Sammelbewegung. Darum weiß ich, dass der Wendepunkt schon passiert ist. Wir geben ja die Gesetze vor. Nicht alle, aber die zum Beispiel, ob Facebook unsere Daten haben kann. Es liegt also an uns. In einer Demokratie können das die Menschen immer bestimmen. Also ist das für mich der Beginn einer „Heilung“, bei der die Jugendlichen auch nicht mehr nur ununterbrochen in den sozialen Medien das eigene Foto anhimmeln. Es ändert sich schon etwas. Ich glaube, dass wir in unserer Generation ein Vorbild sein müssen, indem wir Dinge ermöglichen, die andere weiterführen.
Nehmen wir nur den Bau eines Domes als Beispiel aus der Geschichte. Wenn der Kölner Dom mehr als  600 Jahre lang gebaut wurde (von 1248 bis 1880), dann sind da auch Menschen am Beginn des Bauens gesessen, die garantiert gewusst haben, dass sie das fertige Werk nie betreten und nie sehen werden können. Aber sie haben daran mitgearbeitet und letztlich hat es funktioniert. Wir sind dazu da, ein Grundstück zu suchen, eine Neuvermessung der Welt zu machen und zu schauen, dass wir das Fundament legen. Das ist unsere Aufgabe und nicht die, den ganzen Dom zu bauen. Auf der Baustelle gibt es das physische Gebäude und wir müssen den digitalen Zwilling mitdenken. Wenn wir zur bestehenden Stiftskirche Wilhering etwa eine digitale Kirche bauen und verstehen, dass es eine zweite Welt gibt, die man zwar nicht so sieht, aber die wir bearbeiten müssen, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

OÖN: Die Kirche ist nicht unbedingt für die Schnelligkeit in Fragen der Veränderung bekannt. Was gibt Ihnen, Herr Abt, das gute Gefühl, dass ein Ort des Glaubens und der Ruhe, wie das Stift Wilhering, in Zeiten wie diesen noch seine Berechtigung hat. Und sehen Sie die Möglichkeit, die Kirche dadurch zu öffnen, um jene wieder anzuziehen, die man sonst vielleicht nicht mehr erreichen würde?

Reinhold Dessl: Papst Franziskus legt uns eine hohe Latte. In seinem Schreiben über die neue Geschwisterlichkeit in der Welt geht es genau um diese Themen. Bratet nicht ständig im eigenen Saft. Schaut über den eigenen Tellerrand hinaus. Tretet in einen Dialog mit der Gesellschaft. Das ist unsere Aufgabe. Wir haben etwas anzubieten, im Kern den Mensch gewordenen Gott. Das befähigt uns selbst, immer mehr Menschen zu werden.

OÖN: In Krisenzeiten feiert die Kirche als Ort der Gemeinschaft immer wieder eine Renaissance. Und viele Menschen fragen sich, ob wir nicht alle viel zu schnell unterwegs sind. Wo soll uns das noch hinführen?

Reinhold Dessl: Gerade Klöster haben in Zukunft eine große Chance. Das Leben der Kirche verdünnt sich in den Pfarren, darum suchen die Menschen Zentren, wo es fixe, verlässlich antreffbare Orte gibt, wo das versucht wird, zu leben. Über alle Grenzen hinweg. Klöster sind Orden, sind etwas Innerreligiöses. Wir schauen nicht auf den Taufschein, wenn jemand kommt. Bei mir ist unlängst ein Unternehmer gesessen, der längst aus der Kirche ausgetreten ist, aber er spürt genauso, dass wir mit dem bisherigen System an Grenzen kommen. Es ist eine große Sehnsucht nach etwas Neuem da, aber gleichzeitig noch die Ungewissheit, was das sein wird. Auf alle Fälle kann es nicht so weitergehen wie bisher. Plakativ ausgedrückt wollen die Jüngeren ihr Geld verdienen und ihnen ist das Firmenleben egal, während die Älteren, die verwurzelt in den Firmen sind, aber großteils gegen Ende des Arbeitslebens krank werden, weil sie mit dem Ganzen nicht zurechtkommen. Übrigens: Ich habe gar nicht so die große Angst, dass die Kirche an Bedeutung verliert.

Chris Müller: Mir ist wichtig, dass wir das überwinden müssen, also dass wir sagen, die Technologen, die Sozialisten, die Christen, die Afrikaner… Die Menschen fragmentieren sich andauernd. Ich möchte aber mit dem Abt erreichen, dass wir uns die Hand geben und gemeinsam dorthin gehen, wo noch keiner von uns war. Wir wollen beweisen, dass es immer auf die Menschen ankommt. Wir brauchen neue Sinnbilder für Allianzen. Wir wollen eine Allianz schmieden, die ganz einen anderen Weg aufzeigt. Im Wissen, dass Menschen gut und schlecht sind, bessere und schlechtere Zeiten haben. Ich kenne unendlich viele christliche Menschen, die sich jeden Tag für Menschen einsetzen. Ich kenne aber auch solche, die nicht so leben. Ich denke, wir sollten ein neues Kapitel aufschlagen. In der Mitte vom Stiftshof steht die Skulptur, die die Religion versinnbildlicht. Sie schaut ein wenig aus wie die Freiheitsstatue, schaut hoch, hat ein Buch in der Hand, auf der eine Seite beschrieben, aber die zweite Seite leer ist. Es ist unsere Pflicht, die zweite Seite zu beschreiben. Ich möchte nicht ein Teil der Fragmentierer-Gemeinschaft sein. Die Individualisierung ist teilweise Diktatur, weil es von den Algorithmen vorgeschlagen wird. Bis dass man versteht, dass nicht jeder dasselbe Internet hat, dieselbe Werbung bekommt, dieselben Preise für gleiche Angebote zahlt. Wir werden individualisiert geteilt.

Reinhold Dessl: Ich glaube, dass längerfristig nur jene Organisationen überleben werden, die kooperationsfähig sind. Das gilt für alle Bereiche. Allianzen bilden ist das eine, das zweite ist ein hohes ethnisches Niveau und das dritte ist trotzdem das Stehen zur eigenen Fragmentarität. Ich bin ein bisschen skeptisch über eine Entrüstungsgesellschaft, die sich jeden Tag über Neues entrüstet, was die anderen falsch machen. Das ist auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Die Entrüstung ist natürlich berechtigt, weil wir brauchen ein hohes moralisches Niveau, aber wir müssen wissen, dass wir alle im selben Boot sitzen, auch mit unseren Fehlern, Schwächen und der Verführbarkeit des Menschen. Ich habe immer ein wenig ein schlechtes Gefühl, wenn Menschen sagen, wenn alle so wären wie ich, dann würde ich eh in der Kirche bleiben. Ich kenne mich selbst zu gut (lacht). Ich bin auch nicht besser als alle anderen. Das ist wichtig, denn sonst wird man enttäuscht. Ein Blender wird entlarvt. Das ist die Plattform des Humanismus. Unsere gemeinsame Mission betreiben wir mit Leidenschaft. Wir als Stift bieten die Basis. Was wir einbringen ist Geschichte, Spiritualität, Kontemplation und die Räume, die für sich sprechen, predigen, ohne dass wir etwas sagen müssen. Was die Tabakfabrik einbringt ist die moderne Welt mit allen digitalen Dingen. Was mich an der Tabakfabrik gleich fasziniert hat, ist dieses kreative, innovative Millieu und trotzdem die moralischen Standards. Dass ihr das Grüßen einer Putzfrau zum Beispiel als eine Bedingung zur Aufnahme deklariert habt, ist bemerkenswert.

Chris Müller: In einer Community muss man leben wollen und andockfähig sein, sonst funktioniert das nicht. Im Stift gibt es die Regeln des Heiligen Benedikt und bei uns gibt es eine Hausordnung.

OÖN: Wie wird 2022 Ihre Zusammenarbeit konkret sichtbar werden?

Chris Müller: Wir wollen es wagen, im kommenden Jahr einen Kongress, erste Tage im Stift abzuhalten, und wir werden alles tun, um das zu schaffen. Wir wollen drei Tage zusammenkommen, uns aus den verschiedenen Welten treffen, Workshops erleben und am dritten Tag die Öffentlichkeit dazu holen. Es ist nichts Dogmatisches, aber wir wollen ernsthaft und vertieft diskutieren. Das ist kein Klamauk, keine neon-grelle Veranstaltung. Ich bin dem Abt unendlich dankbar, dass wir in Räumlichkeiten gehen dürfen, die für sich selbst sprechen. Wenn man sich vorstellt, dass man in der Totenkapelle sitzen darf, in einem Raum, der mit Marmor- und Steinplatten und praktisch mit den Blogbeiträgen von Jahrhunderten getäfelt ist, dann erzählen einem das etwas. Da dürfen wir sitzen und können über die Endlichkeit von gesellschaftlichen Modellen reden, über das Sterben und Werden. So haben wir für sechs Themen sechs verschiedene Räume, wo der Raum mithilft. Wir haben die Riesenchance, Eintrittskarten in diesen Ort zu bekommen und ernsthaft darüber zu reden. Was dann über die Jahrhunderte daraus wird, wird man sehen.

OÖN: Was soll im besten Fall, am Ende nach den drei Tagen die Erkenntnis der Veranstaltung sein?

Chris Müller: Dass sich etwas ändern muss, wird uns auch nach den drei Tagen klar sein. Aber rauszugehen und zu wissen, einen wissenschaftlich hinterlegten Fahrplan zu haben, gibt uns die Chance, ein Jahr lang daran zu arbeiten, ehe wir uns wieder treffen.

Reinhold Dessl: Vielleicht klingt es überheblich, aber vielleicht kann man am Ende ein kleines Wilheringer Manifest festlegen, wie man in Zukunft besser mit den Herausforderungen umgeht. In der Verbindung von Rechten und Pflichten, von Individualität und Gemeinwohl.

OÖN: Am dritten Tag soll auch die Öffentlichkeit eingeladen werden. Wie soll das konkret aussehen?

Chris Müller: Das könnte in Form einer Messe, einer Ausstellung sein. Die ersten Festivals werden nicht so sein, dass kein Plan daliegt. Wir müssen uns selbst finden, um diesen digitalen Zwilling zu bauen. Da wissen wir natürlich nicht alles, aber die große Kraft ist da, zusammenzukommen und darüber zu reden.

Reinhold Dessl: Den großen Plan, wie das ausschauen soll, haben wir noch nicht. Wir wollen die ersten Meter zurücklegen. Wie beim Kirchenbau. Drei Begriffe sind kunstgeschichtlich für unsere Kirche wichtig. Einmaligkeit durch Zufall, gekonnte Planlosigkeit und die schöpferische Zerstörung.

Chris Müller: Daran merkt man, wie gut das zusammenpasst. So ist die Kirche entstanden und so das Denken der Kreativen. Daran sieht man, wie eng das verzahnt ist. Es sollen wohltuende Tage sein, in denen man Gemeinschaft erleben kann, aus verschiedenen Perspektiven, Ländern und Sprachen zusammenkommt. Das ist etwas Feines. Wir wollen fokussiert auf das Thema Menschenrechte, Menschenpflichte sein, den Blick auf den Humanismus richten. Eine Seite des Manifestes zu schreiben, das wäre schon ein Ziel.

Reinhold Dessl: Das Stift Wilhering will kein musealer Ort sein. Wir wollen ein Ort der Begegnung sein. Der Hof öffnet sich und lädt ein.

Chris Müller: Apropos Einladung: Wir haben mit Manfred Scheuer den Bischof von Oberösterreich im Boot. Und wir haben den Vatikan eingeladen. Ich habe ein Schreiben aufgesetzt, nach Wien zur Nuntiator geschickt und von dort geht es mit Begleitschreiben von Bischof Scheurer und Abt Dessl nach Rom. Und jetzt warten wir darauf, dass der Papst ein Video mit einer Grußbotschaft für unsere Veranstaltung nächstes Jahr schickt. Der dritte Punkt ist, dass der Papst nach Wilhering kommt.

OÖN: Das wird aber nicht passieren, oder?

Chris Müller: Nichts ist unmöglich. Man muss es einfach angehen. Es nicht zu probieren, halte ich auch für einen Fehler. Wir nehmen das total ernst.

 

Alle Fotos: Jürgen Grünwald

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