Von qualmenden Zigaretten zu rauchenden Köpfen – die Entwicklung des ehemaligen Industrieareals hin zum florierenden Treffpunkt der Kreativ- und Startup-Szene ruft viele InteressentInnen auf den Plan. Darunter auch einige Studierende wie beispielsweise Ina Voshage, die sich in ihrer Masterarbeit an der Universität Passau mit dem Thema Arbeitswelt 4.0 und der Bedeutung von Coworking-Spaces beschäftigt. Im Rahmen ihrer Recherchen bat sie Chris Müller, Direktor für Entwicklung, Gestaltung und künstlerische Agenden in der Tabakfabrik, zum Interview und sprach mit ihm über die Gründerkultur und Kreativszene in Linz und darüber, was Frankenstein eigentlich mit Start-ups zu tun hat.
Wie hat sich in Linz und im Speziellen in der Tabakfabrik diese kreative Szene gebildet?
Ich denke, dass man für diese Antwort ein paar Jahrzehnte in die Vergangenheit gehen muss. Ein entscheidender Faktor für die Entwicklung von Linz war der Umstand, dass es die „Lieblingsstadt des Führers“ war. Dass hier mit den Hermann-Göring-Werken (heutige voestalpine, Anm.) Großindustrie in einer eigentlich viel zu kleinen Stadt angesiedelt wurde. Und dass der Nationalsozialismus eine so katastrophale Erfahrung für die Menschheit war, darin liegt, denke ich, die Geburtsstunde des modernen Linz. Denn man hat dann gesagt: Alles, was der Führer wollte, das wollen wir jetzt auf keinen Fall. Und alles, was er um keinen Preis wollte – nämlich Weltoffenheit, Kreativität, Ungehorsam –, das müssen wir fördern.
Aber eine Industriestadt ist Linz geblieben.
Ja, aber diese Industrie musste innovativ sein – und das war sie auch. Es hat sich ein Arbeitermilieu gebildet, geprägt von jungen Kreativen, die aber die Verbindung zur Hochtechnologie und Industrie nie verloren haben. Und darauf ist man ja auch stolz, Linz hat mehr Arbeitsplätze als EinwohnerInnen – bei uns will man arbeiten. Und diesem Zeitgeist ist beispielsweise auch die Ars Electronica entsprungen – an der Schnittstelle zwischen Technologie, Kreativität, Kultur und Gesellschaft.
Also weg von der Vergangenheit, hin zur Zukunft?
Absolut, der Blick kann nur nach vorne gehen. Wir sind keine Stadt wie beispielsweise Salzburg mit traditionsreicher Musikgeschichte. Wir müssen in Linz unsere Kultur selbst bilden, unsere eigene Identität prägen. Und dann gab es da dieses leerstehende Fabriksgebäude. Ein Linzer Leitbetrieb, der zu Ende geht. Eine offene, klaffende Wunde, die nach Nikotin riecht. Und die Stadt Linz sagt: „Wir machen das! Wir kaufen die!“ Ohne zu wissen, wofür, aber mit der Ahnung, dass es wichtig und richtig und eine Investition in die Zukunft ist.
Wie entwickelte sich die leerstehende Industriebrache dann zum florierenden Hotspot der Kreativwirtschaft?
Zur Beginn wussten wir nicht, in welche Richtung es gehen könnte. Wir haben nur gewusst, was die Tabakfabrik nicht ist. Kein Einkaufszentrum, kein Leipzig, kein Museumquartier. Noch vor der Schließung der Tabakfabrik im Jahr 2009 wurde eine Studie in Auftrag gegeben, die herausfinden sollte, wofür das Areal genutzt werden könne. Das Ergebnis: Kultur und Kreativwirtschaft. An diesem Standort wird nun also seit beinahe 350 Jahren produziert – zuerst Textil, dann Tabak und jetzt Kreativität.
Wie funktioniert die „Produktion“ von Kreativität in der Tabakfabrik?
Das Ziel ist es, allen die hereinkommen und eine Idee haben, eine Art Werkzeugkasten in die Hand zu geben, mit dem sie ihre Idee verwirklichen können. Sei das ein Pinsel, ein Raum, Risikokapital oder ein Mentoren-Projekt. Und der Sinn unseres kollaborativen Konzerns ist es auch, das nicht im Eigenbetrieb zu machen, sondern mit den anderen MieterInnen zu kooperieren und gemeinsam etwas zu schaffen. Das kannst du dann auch bei uns zeigen – bei Hausmessen zum Beispiel. Das ist unser Produktionssystem.
Wie wird die Tabakfabrik zu einem kollaborativen Konzern?
Von zentraler Bedeutung für diesen Prozess sind Datenanalyst und Netzwerkforscher Harald Katzmair und FASresearch. Mit ihnen gehen wir der Frage nach, wie wir den nächstwichtigen Mieter in die Tabakfabrik bringen, von dem alle profitieren. Wir fragen Mieter A und B, welchen Mieter C sie brauchen würden, um wachsen zu können. Dann gleichen wir das mit unseren Mietanfragen ab, ob es ein Unternehmen, eine Organisation oder ähnliches gibt, das diese Anforderungen erfüllt. Diese wissenschaftliche Herangehensweise hat sich sehr bewährt, weil wir in unserer Ökologie alle Akteure eines Innovationszyklus brauchen – Kämpfer, Introvertierte, Extrovertierte, Gescheiterte,… –, denn alle tragen zum Funktionieren des Ökosystems bei. Wir brauchen alle Kompetenzen. Aber Kollaboration kommt eben auch nicht immer von Harmonie.
Würden Sie die Tabakfabrik als Coworking-Space bezeichnen?
Wir wollen der erste kollaborative Konzern der Welt sein. Wir haben das Wort „Konzern“ auch bewusst gewählt, da es in einer anderen Größenliga spielt und das Potential hat, Stadt und Land zu verändern. Wir können hier einmalige Möglichkeiten mit fantastischen Netzstrukturen bieten, die so schnell nicht nachzuahmen sind.
Kommen wir zu einem Punkt, der die Gesellschaft vor eine Herausforderung stellt und dem man sich auch in der Tabakfabrik widmet: dem digital divide, also die Kluft zwischen Bevölkerungsgruppen, die einen unterschiedlichen Zugang und eine differente Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien haben.
Es gibt ein Bild, das dieses Problem meiner Meinung nach sehr gut versinnbildlicht, nämlich jenes, das Mary Shelly in ihrem Roman „Frankenstein“ zeichnet. Es geht um die Konfrontation des Schöpfers mit seiner Kreation, die ihn letztendlich tötet, und die steht im Endeffekt auch für unsere Zeit. Aber Frankenstein ist kein Monster, das wissen wir 150 Jahre später, denn es ist der Strom, der ihn zum Leben erweckt. Der Strom hat aber ebenso gesellschaftliche Verbesserung wie Wärme, Hygiene, Sicherheit gebracht hat. Und heute fragen wir uns, ob die Digitalisierung das Monster ist, aber das können wir vermutlich auch wieder erst in 150 Jahren ehrlich beantworten. Und heute ist Dr. Frankenstein ein Start-up, ein Techniker, ein Datenanalyst, ein Kreativer. Das Schloss ist ein Hub. Und Frankenstein ist künstliche Intelligenz, Digitalisierung, Industrie 4.0 – und wir werden erst in 150 Jahren sehen, ob es gut oder schlecht ist. Aber ein Monster ist Frankenstein definitiv nicht.
Zum Thema Gründerkultur in Linz und Österreich: Wie unterscheidet sie sich Ihrer Meinung nach am meisten von jener im Silicon Valley?
Ich denke, der größte Unterschied ist die Angst vor dem Versagen. Wenn du in Österreich etwas in den Sand setzt, hängt es dir ewig nach. In den Gründungszentren der USA oder auch in Tel Aviv herrscht ein ganz anderer Geist. Denn in Wirklichkeit kann nur jener erfolgreich sein, der auch einmal gescheitert ist. Aber wir in Österreich haben noch immer Angst davor, gesellschaftlich geächtet zu werden, wenn wir versagen. Und da sind wir noch meilenweit vom Mindset des Silicon Valleys entfernt.
Weil wir auch immer einen Sündenbock für unser Scheitern suchen?
Genau, weil wir können ja nicht selbst schuld daran sein. Das Schöne bei uns ist allerdings, nicht bodenlos zu fallen.
Was denken Sie ist das Geheimrezept der Tabakfabrik?
Es sind viele Faktoren: Wir haben ein unheimlich schönes Gebäude, eine Stadtregierung, die zu uns hält und stolz ist, sehr positive Umfragewerte in der Bevölkerung und hohe Bekannheitswerte – 98 % in Linz und 90 % in Oberösterreich. Und wir alle hier kämpfen leidenschaftlich für das Projekt, das ist eine Energie, die schon kaum mehr zu zähmen ist. Ein unbedingter Wille, eine gewisse Verwegenheit, ein verheißungsvoller Wagemut. Wir sind gewissermaßen wie James Dean, nur eben Rebellen mit Grund… und Boden.
Wo sehen Sie die Kreativ- und Gründungszentren und Coworking-Spaces in etwa zehn Jahren?
Im Grunde wird es nur mehr um Software gehen. Es wird viel Wissen geben, das wir mit anderen teilen wollen. Und die Tabakfabrik als Ort dieses Wissensaustauschs wird noch relevanter für Linz geworden sein, gesellschaftsrelevant. Ein Ort, der Menschen zusammenbringt und nicht entzweit. Und Coworking Spaces werden zu Micro-Factories, angeschlossen an einen Produktionsort, wo Unternehmer zusammenkommen und gemeinsam arbeiten und Fabriken betreiben.