Interkommunaler Erfahrungsaustausch zur Revitalisierung von Industriebrachen in Nürnberg
Die Neugestaltung der Tabakfabrik Linz entfacht reges Interesse – und zwar längst über die Grenzen Österreichs hinaus. Auf Einladung des Planungs- und Baureferats reisten Tabakfabrik-Direktor Chris Müller und Nina Fuchs, Pressesprecherin der Tabakfabrik, kürzlich nach Nürnberg, um das interdisziplinäre Entwicklungskonzept der Tabakfabrik zu präsentieren.
Die Revitalisierung von Industriebrachen oder Großimmobilien erlebt heute parallel zum fortschreitenden Strukturwandel einen weltweiten Boom und beschäftigt nahezu jede europäische Stadt. In Zeiten zunehmender Automatisierung und Deindustriealisierung gilt der Umgang mit stillgelegten Produktionshallen oder Betriebsstätten – speziell, wenn diese unter Denkmalschutz stehen – vielerorts als Schlüsselfaktor für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit, Prosperität und Lebensqualität einer gesamten Region.
Im Gespräch mit Daniel F. Ulrich, dem Planungs- und Baureferenten der Stadt Nürnberg, sowie wichtigen EntscheidungsträgerInnen anderer kommunaler Abteilungen erfolgte ein bereichernder Erfahrungsaustausch. „Stadtentwicklung ist ein hochkomplexes Themenfeld und häufig eine ebenso erfüllende wie undankbare Aufgabe. Viele Projekte haben Laufzeiten von Jahrzehnten, selbst die größten Erfolge sind meist nur Etappensiege, die kaum öffentlich sichtbar werden, und es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alle zufriedenzustellen. Umso mehr beeindrucken mich die Leistungen der federführenden StadtentwicklerInnen Nürnbergs. Mit großer Kompetenz und Leidenschaft schaffen Daniel Ulrich und sein kompetentes Team ein krisenfestes Fundament für die Stadt von morgen“, sagt Chris Müller, Direktor der Tabakfabrik Linz.
Dabei stehen Nürnbergs StadtplanerInnen vor einer noch viel größeren Herausforderung als ihre Linzer KollegInnen. Besitzt die zweitgrößte Metropole Bayerns doch in unmittelbarer Nähe gleich zwei ehemalige Industrieanlagen mit gigantischen Dimensionen, von denen eine das zweitgrößte Denkmal Deutschlands ist. Neben dem 168.000 m² großen ehemaligen AEG-Gelände, heute ein angesagtes Kreativquartier, wartet mit dem Quelle-Areal eine gewaltige denkmalgeschützte Leerstandsimmobilie auf neues Leben. Das ehemalige Versandzentrum des untergegangenen Handelsriesen umfasst unglaubliche 255.000 m² – eine Stadt in der Stadt, die einst als modernstes Versandhaus der Welt gehandelt wurde.
Zu Spitzenzeiten waren in diesem Gebäudekomplex, den manche Nürnberger liebevoll „schlafender Riese“ nennen, 10.000 Menschen beschäftigt. Und das Baujuwel von Ernst Neufert ist tatsächlich ein Riese, um den sich eindrucksvolle Legenden ranken. So soll etwa ein Getränkehändler, der Freitagnachmittag die Automaten befüllen wollte, in dem Labyrinth aus Korridoren, Höfen und Hallen verloren gegangen sein.
Nach stundenlangem Umherirren wusste sich dieser nicht anders zu helfen, als die Scheibe eines Feuermelders einzuschlagen. Und so kam die Rettung in Gestalt der Werksfeuerwehr. Von den Mitgliedern der Löschmannschaft ging auch die Kunde, sie seien die einzigen, die sich wirklich auskennen würden in diesem Irrgarten mit einer Viertelmillion Quadratmeter Fläche.
Rund um die beiden Haupthöfe der Quelle gruppieren sich Gebäude mit einer Länge von 240 Metern. Auf ihren unermesslichen Dachflächen erstrecken sich Terrassenlandschaften und Penthäuser, tief unten rauschen Autos in Spielzeuggröße vorbei.
Über allem ragt der 90 Meter hohe Kamin des Heizhauses inklusive Lift und Aussichtsplattform, an dessen Spitze weithin sichtbar nach wie vor das Logo des ehemaligen Großkonzerns prangt. Ein Stück Nürnberger Identität im Dornröschenschlaf.
Vergangenes Jahr musste das Hauptquartier des ehemals größten Arbeitgebers der Gegend zwangsversteigert werden. Die Quelle ging für 16,8 Millionen Euro an den portugiesischen Investor Sonae Sierra.
Nürnbergs StadtentwicklerInnen wissen, dass der Schlüssel zur erfolgreichen Revitalisierung der Quelle in der guten Zusammenarbeit von öffentlicher und privater Hand liegt. Im Austausch mit externen ExpertInnen, wie etwa VertreterInnen der Tabakfabrik Linz, erstellen sie derzeit ein Gestaltungskonzept im Einklang mit den Plänen des Investors und dem Bedarf der Stadt.
Wachgeküsst werden soll die Quelle durch einen Nutzungsmix mit den Schwerpunkten Kreativität, Bildung, Freizeit und Wohnen. Um zu verhindern, dass der auf Shopping Malls spezialisierte Großkonzern Sonae Sierra aus der Quelle ein einziges Einkaufszentrum macht, wurde die im Bestand festgelegte Beschränkung auf 18.851 m² Handelsfläche in weiser Voraussicht beibehalten.
Wer wissen möchte, wie eine derartige, speziell auf die Bedürfnisse Nürnbergs abgestimmte Neugestaltung aussehen könnte, muss nur die Straßenseite wechseln. Dort, wo bis zum Jahr 2007 Waschmaschinen in zwölf Metern Höhe über den Hof transportiert wurden, tummeln sich heute auch Kreative.
Das ehemalige Fabrikgelände der AEG in Nürnberg steht nun unter dem Motto „Creating Communities“, die Immobiliengesellschaft MIB verwandelte das Areal in ein urbanes Quartier für die Wachstumsbranche der Creative Industries.
Aktuell beherbergt „Auf AEG“ verschiedenste Bildungs- und Forschungseinrichtungen wie etwa den Energiecampus Nürnberg, Designbüros, Werkstätten, Fab Labs, Dienstleistungsbetriebe, trendige Cafés und insgesamt rund 80 Ateliers für zeitgenössische KünstlerInnen. Letztere haben mit „Offen auf AEG“ ein Kulturformat geschaffen, das heute zu den großen Kunstereignissen Deutschlands zählt. Ein Wochenende lang öffnen die Künstlerinnen und Künstler ihre Ateliers, bestücken die Ausstellungshallen mit ihren Werken und konzipieren ein Festival, das alljährlich rund 20.000 BesucherInnen anzieht.
Im Vergleich zum benachbarten Quelle-Komplex verfügt Nürnbergs AEG-Areal allerdings auch über einen entscheidenden Vorteil: Es konnte aufgrund seiner Gebäudestruktur etappenweise entwickelt werden. Das erleichterte einerseits die Finanzierung der notwendigen Revitalisierungsmaßnahmen und andererseits die Steuerung der jeweiligen Neugestaltungsprozesse. So wie im Fall der Tabakfabrik Linz passierte die Transformation der Industrieanlage Schritt für Schritt, erlaubte ein Ausloten der jeweiligen Raumqualitäten, ermöglichte Zwischennutzungen und organisches Wachstum. Dadurch konnte auch jene geschichtsträchtige Atmosphäre konserviert werden, die „Auf AEG“ heute so attraktiv macht.
Die rege Betriebsamkeit des Stadtteils, in dem bis in die 1990er Jahre in der AEG-Fabrik Waren vom Fließband liefen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite von der Quelle vertrieben wurden, kehrt so sukzessive zurück. Und Nürnberg – eine Stadt, die seit jeher für großen Namen der deutschen Industriegeschichte stand – erfindet sich neu.