„Reuchlin! Wer will sich mit ihm vergleichen? Zu seiner Zeit ein Wunderzeichen!“ – Dieses Zitat von Johann Wolfgang von Goethe über den Humanisten, Universalgelehrten und Brückenbauer Johannes Reuchlin ziert seit einiger Zeit nachts die Fassade des Kraftwerks der Tabakfabrik Linz. Im ausführlichen Gespräch erzählt Franz Praher, ehemaliger Leiter der berufsbildenden Schulen Rohrbach sowie Reuchlin-Experte und -Förderer, warum dieses Loblied gerechtfertigt ist, weshalb Reuchlin dennoch relativ unbekannt ist, was er mit Linz zu tun hat und wie Reuchlin und die Tabakfabrik in Verbindung stehen.
Gerade heute sind Charaktere wie Reuchlin, die Gesellschaften und Kulturen verbinden statt trennen, gefragter denn je. Aus diesem Grund setzt sich die Tabakfabrik gemeinsam mit der Reuchlin-Gesellschaft dafür ein, dem Brückenbauer Johannes Reuchlin ein Denkmal zu setzen – und welches wäre geeigneter als die neue Donaubrücke, die 2021, ein Jahr vor Reuchlins 500. Todestag, eröffnet werden soll.
Johannes Reuchlin war einer der großen Humanisten der frühen Neuzeit. Warum ist er im Vergleich zu Erasmus von Rotterdam trotz seiner Bedeutung heute weniger bekannt? Oft wird Reuchlin ja auch als „Brückenbauer“ bezeichnet.
Diese beiden großen Persönlichkeiten des 15. und 16. Jahrhunderts wären wahrscheinlich eine abendfüllende Diskussion wert. Sie korrespondierten miteinander und schätzten sich auch sehr. Erasmus nennt zum Beispiel in einem Brief Johannes Reuchlin „die einzige Zierde, das Licht und den Schmuck ganz Germaniens“. Reuchlin war in Intellektuellen- und Gelehrtenkreisen bis ins frühe 20. Jahrhundert ein ganz großer Name – bei vielen Intellektuellen übrigens heute auch noch.
Aber ja, wenn man heute in Deutschland und Österreich nach Johannes Reuchlin fragen würde, bekäme man wahrscheinschlich sehr oft ein Achselzucken als Antwort. Ich denke, dass da sowohl eine politische Dimension als auch eine rezeptionsgeschichtliche Komponente eine ganz wichtige Rolle spielen. Als politische Dimension würde ich den enormen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich einordnen. In katholischen Ländern spielt sicherlich auch eine Rolle, dass seine Verteidigungsschrift Der Augenspiegel, die er an seine Gegner, die Religionswächter der Dominikaner und der Inquisition, gerichtet hatte, vom Papst verboten wurde. Rezeptionsgeschichtlich glaube ich, dass vieles aus der Feder eines Erasmus – ob das Satire oder auch philosophisch-theologische Schriften sind – leichter zu vermarkten war als die Arbeiten eines Reuchlin, der sich doch sehr stark mit dem Hebräischen und dem komplizierten Bereich der jüdischen Geheimlehre – der Kabbala – beschäftigt hatte.
„Brückenbauer“ war Reuchlin insofern, als dass er nicht das Trennende, sondern das Verbindende zwischen den Religionen und Kulturen suchte.
Inwiefern war Johannes Reuchlin Humanist und Universalgelehrter?
Zunächst müssten wir einmal klären, was der sogenannte Humanismus eigentlich war. Wir verwenden den Begriff oft, aber wenn wir nachfragen, was Humanisten genau auszeichnet, würden wir vielleicht schnell in einen Argumentationsnotstand geraten.
Der Humanismus löst die Scholastik ab, in der Originale kaum eine Rolle spielen. Man zitiert aus zweiter oder dritter Hand. Wenn Sie „Im Namen der Rose“ von Umberto Eco kennen, haben Sie ein ganz gutes Bild davon. Die Originale sind nur wenigen bekannt. Information ist ja immer auch Macht.
Im 15. Jahrhundert entwickelt sich nun an den europäischen Universitäten eine Gruppe von jungen Gelehrten, die zurück zu den Quellen – „ad fontes“ – wollen. Daher beginnen sie, neben der „lingua franca“ Latein auch Griechisch und Hebräisch zu studieren, um sowohl die Bibel als auch die griechischen Philosophen im Originaltext lesen zu können. Damit wird das Informationsmonopol bestimmter theologischer Fakultäten und der Kirche gebrochen. Die Humanisten suchen in den Originalen ihre eigene Wahrheit oder eigenen Wahrheiten. Der Konflikt mit traditionellen konservativen Kreisen der katholischen Kirche ist damit vorprogrammiert.
Außerdem Johannes Reuchlin ist einer der Ersten, der bei den besten Lehrern seiner Zeit auch Griechisch studiert. Er ist enorm belesen und auch ein ausgezeichneter Philologe und Sprachpädagoge, der schon in ganz jungen Jahren Sprachbücher publiziert. Philosophisch ist er sehr beeinflusst von Größen wie Nikolaus von Kues und der Florentiner Schule rund um Poliziano, Ficino und vor allem auch Pico della Mirandola, den er als den gelehrtesten Mann seiner Zeit bezeichnet.
Wie für Humanisten üblich, wurde sein Name auch als „Capnion“ (=das Räuchlein) gräzisiert, also in altgriechische Sprachform gebracht. Berühmt ist vor allem auch seine für die damalige Zeit große Bibliothek.
In späteren Jahren widmet er sich besonders dem Hebräischen, der Sprache Gottes, wie er sagte, und studiert vor allem die jüdische Geheimlehre, die Kabbala, weil er glaubte, hier zur Bibel noch zusätzliche göttliche Offenbarungen zu finden.
Ganz interessant ist, wie der berühmte Schriftsteller und Jurist Sebastian Brant ihn beschreibt: „Capnion, du Rühmenswerter unter den berühmten Dichtern, … oder … du bester aller Schwaben, du einzigartige Zier dreifacher Zunge.“
Also man kann durchaus sagen, dass Reuchlin eine Art Universalgelehrter war. Sein integrativer Ansatz kann sicherlich als Meilenstein in der europäischen Geistesgeschichte gesehen werden.
Welchen Einfluss hatten Reuchlins hebräische Sprachlehren?
Reuchlin war der erste Deutsche, der eine Einführung ins Hebräische, De rudimentis hebraicis (1506), und eine hebräische Sprachlehre, De accentibus et orthographia linguae hebraicae (Die Akzente und Orthographie der hebräischen Sprache), publizierte.
Obwohl führende Entscheidungsträger der Zeit schreckliche Antisemiten waren, hat Reuchlin vor allem über Philipp Melanchthon, seinen Großneffen, entscheidend dazu beigetragen, dass Hebräisch heute für alle Studenten an theologischen Fakultäten, ob evangelisch oder katholisch, ein Pflichtfach ist. In seiner Rede über Johannes Reuchlin De Capnione Phorcensi aus dem Jahr 1552 erwähnt Melanchthon, wie wichtig Reuchlins Einfluss auf diese Entwicklung war.
Was zählt zu den wichtigsten Werken Reuchlins?
Zweifellos zählen die beiden kabbalistischen Werke De verbo mirifico (Vom wundertätigen Wort) und De arte Cabbalistica (Die Kunst der Kabbalistik) zu seinen wichtigsten Werken. Beide Werke beschäftigen sich mit der Kabbala. In beiden Werken diskutieren drei Philosophen über theologisch-philosophische Themen, die uns auch heute noch durchaus beschäftigen.
De verbo mirifico erschien im Jahr 1494, gleich nach seinem Linzer Aufenthalt. Man könnte vielleicht sogar annehmen, dass große Teile davon in Linz entstanden sind. In dem Werk führen der Philosoph Sidonius, der Jude Baruchias und ein gewisser Capnion (eben Reuchlin) in Pforzheim, der Geburtsstadt Reuchlins, drei Tage lang theologisch-philosophische Gespräche, in denen die Grundpositionen der drei Religionen zu einer Einheit verschmelzen. Von Pico della Mirandola beeinflusst, zielt Reuchlin auf eine Christianisierung der jüdischen Mystik. Max Brod nennt dieses Werk das kabbalistische Lehrstück von Reuchlin.
Sein Meisterwerk ist sicherlich De arte cabalistica libri tres, das im Jahr 1517, also erst 13 Jahre später, erschienen und Papst Leo X gewidmet ist. Auch in diesem Werk diskutieren drei Personen, nämlich der Jude Simon, der Mohammedaner Marcanus und der Grieche Philolaus. In der Person des Simon zeichnet Reuchlin seinen Lehrer Jacob ben Jechiel Loans nach.
Es ist zu seiner Zeit eines der wichtigsten christlichen Werke über das Judentum. Auch in diesem Werk geht es um die Harmonisierung der Kabbala mit dem Christentum und dem Islam. Im 15. Jahrhundert ohne Aggression und Geringschätzung über andere Religionen nachzudenken und zu diskutieren, zeigt die geistige Größe und die Persönlichkeit dieses Mannes. Ich denke, dass wir daher auch heute noch sehr viel von ihm lernen können.
Weiters hat Reuchlin als Sprachpädagoge schon sehr früh eine lateinische Vokabelsammlung, den Vocabularius breviloquus (1478), veröffentlicht. Sie war eine der meistverkauften Vokabelsammlungen und wurde noch Jahrzehnte nach seiner ersten Publikation immer wieder aufgelegt. Außerdem publizierte er wie schon erwähnt zwei Arbeiten zum Hebräischen, nämlich De rudimentis hebraicis (1506) und De accentibus et orthographia linguae hebraicae (1518).
Da natürlich zu dieser Zeit das Druckergewerbe, die schwarze Kunst, noch sehr jung war, waren besonders die hebräischen Drucke eine große Herausforderung und Neuland für den Autor und den Drucker.
Aber Reuchlin gilt mit seinen beiden lateinischen Dramen Sergius und Henno auch als Begründer des lateinischen Schuldramas. Er war außerdem ein sehr begabter Lyriker und muss eine Vielzahl von lateinischen Gedichten geschrieben haben, von denen leider nur mehr ein Teil erhalten geblieben ist.
Angeblich gibt es auch eine Fülle an Briefen von Reuchlin?
Ja, Briefe spielten eine ganz wichtige Rolle im Leben der Humanisten. Johannes Reuchlin war ein besonders begnadeter Netzwerker, der mit allen Größen des damaligen geistigen Lebens korrespondierte. Das waren die ersten „social networks“. Es wurde von den Humanisten enorm viel Zeit dafür investiert und man nahm darin zu allen Themen der Zeit, von Philosophie über Literatur bis Politik, Stellung. Dies war in einer Zeit, in der es noch kein ausgebautes Postsystem gab, eine enorme Leistung.
Uns geben die noch erhaltenen Briefe, die beinahe alle in Latein geschrieben sind, einen tiefen Einblick in das Leben der Autoren sowie der Zeit. Stellen Sie sich vor, Sie schreiben bei schlechtem Licht mit Gänsekiel seitenlange Briefe zu verschiedensten Themen auf teures Papier, müssen diese natürlich noch kopieren, das heißt abschreiben, damit Sie für die Antwort wissen, was Sie geschrieben haben, und müssen dann jemanden suchen, der Ihren Brief überbringt. Spannend, nicht wahr?
Von Johannes Reuchlin sind uns vier Bände an Briefen erhalten. Sie wurden in den letzten Jahrzehnten veröffentlicht und übersetzt. Briefe sowie seine Verteidigungsschriften spielen auch in seiner Auseinandersetzung mit den Kölner Theologen und der Inquisition eine große Rolle.
Können Sie die wichtigsten Stationen des Lebens von Johannes Reuchlin nachzeichnen?
Naja, zunächst einmal ist da seine Vaterstadt Pforzheim, auf die er immer sehr stolz war – er hat beinahe alle seine Werke mit Johannes Reuchlin, Phorcensis gezeichnet. Hier besucht er die Lateinschule und sticht schon dort als einer der intelligentesten Schüler hervor. Als Student lernt er große Teile und wichtige Städte der damaligen Welt kennen. Nach der Lateinschule in Pforzheim studiert er in Freiburg, Paris und Basel die Artes Liberales und dann in Orleans und Poitiers weltliches Recht. Er hat damit schon weit über seinen deutschen Tellerrand hinausgesehen und einen großen Teil der damaligen Welt kennengelernt. Von Poitiers geht er zurück nach Tübingen und wird zum Berater und einer der engsten Mitarbeiter von Eberhard im Barte, dem sehr einflussreichen Grafen und späteren Herzog von Württemberg. Neben seiner Beratertätigkeit ist er auch noch als Anwalt tätig. Mit und für Eberhard I kann er im Jahre 1482 und 1490 nach Italien reisen und die Größen der italienischen Renaissance wie zum Beispiel Angelo Poliziano, Marsilio Ficino und Pico della Mirandola kennenlernen. Der Florentiner Hof unter Lorenzo il Magnifico beeinflusst ihn sehr.
1492-1493 ist sein Aufenthalt am Linzer Hof im Auftrag seines Landesherrn zu nennen, Linz ist für ihn aber auch wichtig, um seine Hebräischkenntnisse zu vervollkommnen. Aus politischen Gründen muss er nach dem Tod Eberhards I. für einige Jahre nach Heidelberg gehen und wird dort im Kreis des Wormser Bischofs und Kanzlers der Universität Heidelberg, Johannes von Dalberg, mit offenen Händen aufgenommen. Der Kreis um Dalberg gilt als die deutsche Variante des Florentiner Kreises – quasi ein „Thinktank“ der damaligen Zeit. In der Heidelberger Zeit arbeitet er auch als Berater von Philipp von der Pfalz, in dessen Auftrag er auch eine dritte Italienreise unternimmt, wo er den berühmten Drucker Aldus Manutius kennenlernt und Hebräischunterricht bei Obadia Sforno nimmt.
Im Jahre 1499 kehrte er nach Stuttgart zurück und wird dort wieder in den alten Ämtern eingesetzt. 1502 erreicht er den Höhepunkt seiner Karriere, als er zu einem der obersten Richter des Schwäbischen Bundes ernannt wird. Diese Funktion – sehr gut dotiert und mit hoher Akzeptanz verbunden – hat er bis 1513 inne, dem Zeitpunkt, als der junge und unberechenbare Herzog Ulrich von Württemberg aus dem Schwäbischen Bund austritt.
Ich bin überzeugt, dass Johannes Reuchlin davon geträumt hat, dass er sich nach dieser beruflichen Bilderbuchkarriere auf seinem Landgut in Ditzingen bei Stuttgart zurückziehen und sich seiner Arbeit über die Kabbala und das Christentum widmen könnte. Leider wird ihm diese Chance nicht gegeben. Sein letztes Lebensjahrzehnt ist gekennzeichnet durch die Auseinandersetzung und den Streit mit den Kölner Dominikanern. Ich denke, das hat ihm psychisch sehr zu schaffen gemacht. Der lange Prozess in Rom hat ihn auch sein Vermögen gekostet.
Wegen der unberechenbaren politischen Lage, verursacht durch den Hitzkopf Ulrich von Württemberg, der Pest und wahrscheinlich auch der Notwendigkeit, wieder Geld zu verdienen, verlässt er Württemberg im Jahre 1519. Der Herzog von Bayern hat ihn an die Universität Ingolstadt berufen. Dort unterrichtete er Griechisch und Hebräisch und wohnt im Haus des bekanntesten Luther-Gegners Johannes Eck. Die Hörsäle waren bei seinen Vorlesungen zum Bersten voll. Er galt nach wie vor als Superstar unter den Intellektuellen. Selbst sein Freund Eck besuchte seine Vorlesungen. Von dem gibt es sogar noch Teile von Mitschriften.
1521 kehrt er kurz nach Württemberg zurück und nimmt eine Berufung nach Tübingen an, wo er ebenfalls vom Kollegium und von Studenten mit Begeisterung empfangen wird und die Hörsäle zu klein werden.
Am 30. Juni 1522 stirbt Johannes Reuchlin.
Sie haben erwähnt, dass Johannes Reuchlin 1492 nach Linz kam. Warum und was zeichnete seinen Aufenthalt in Linz aus?
Genau, wie eben erwähnt kommt Reuchlin im Auftrag seines Dienstgebers, Eberhard im Barte, 1492 an den Kaiserhof von Friedrich III nach Linz – damals ein kleines Städtchen an der Donau mit ca. 3000 Einwohnern. Reuchlin sollte die Erbfolge für Württemberg neu verhandeln. Eberhard wollte verhindern, dass das Fürstentum nach seinem Tod wieder geteilt wird. Dazu brauchte man die Zustimmung des Kaisers. Der Kaiser und seine Beamten sind begeistert von diesem belesenen und gelehrten Diplomaten und haben ihn sehr freundschaftlich aufgenommen. Reuchlin ist mit seinem Auftrag natürlich erfolgreich. Er bleibt aber bis in den Spätherbst 1492 in Linz. Besonders deshalb, weil er hier einen Mann trifft, den kaiserlichen Leibarzt Jacob ben Jechiel Loans, bei dem er Hebräischunterricht nimmt. Jacob ben Jechiel Loans gilt als einer der erfahrensten Kabbalisten seiner Zeit, den Reuchlin enorm schätzt und verehrt. In De arte cabalistica setzt er ihm dann in der Figur des Juden Simon ein Denkmal. Auch Friedrich III, der als Geizkragen der Nation gilt, ist sehr angetan von Reuchlin. Der Kaiser erhebt Reuchlin in Linz als Pfalzgrafen in den Adelsstand und lässt für Reuchlin eine enorm teure hebräische Bibel – natürlich eine Handschrift – aus Wiener Neustadt bringen, die er ihm zur Abreise schenkt.
Reuchlin kehrt im Frühjahr 1493 dann noch einmal zurück an den Kaiserhof nach Linz, um die Gespräche und den Unterricht mit seinem Lehrer Loans fortzusetzen. Er reist erst nach dem Tod Friedrichs ab, der am 19. August 1493 in Linz stirbt. Über Reuchlins Aufenthalt in Linz gibt es übrigens eine ganz interessante und lesenswerte Novelle von Konrad Schiffmann mit dem Titel Johannes Reuchlin in Linz.
War Johannes Reuchlin einer der Ersten, der vom Bürger zum Adeligen aufgestiegen ist?
Ja, ganz richtig – man könnte also sagen, dass Reuchlin durch seinen Fleiß und seinen enormes Wissen durch alle Gesellschaftsschichten aufstieg und beim Bürgertum und sogar beim Kaiser hohe Akzeptanz und Wertschätzung erfahren hat.
Sie haben erwähnt, dass es zwischen Theologen und Reuchlin zum Streit gekommen ist. Angeblich ging es da um ein Gutachten für Kaiser Maximilian?
Das 15. und 16. Jahrhundert ist die Bruchstelle zwischen Mittelalter und Moderne. In Zeiten wie diesen wirken stark divergierende Kräfte innerhalb einer Gesellschaft. Also finden wir enorm reaktionäre Strömungen, die zurück ins Mittelalter tendieren, und andererseits Gruppen, die sich davon lösen und neue Wege gehen wollen, wie die Humanisten.
Dazu kommt, dass die Kirche teilweise moralisch in einem sehr desolaten Zustand ist und man natürlich Sündenböcke braucht, um von sich abzulenken. Juden stellten gute Sündenböcke dar – eine andere Religion, eine andere Sprache, eine andere Kultur. Immer wieder sind sie das Opfer von Fundamentalisten und Religionswächtern, wie zum Beispiel den Dominikanern, die auch den Inquisitor stellten.
Im Grunde ist das ja auch heute nicht viel anders. Die Sündenböcke müssen immer die anderen, die „Fremden“ sein. Gruppen, die keine große Lobby haben, von denen man keine Probleme oder Repressalien zu erwarten hat. Die Saubermänner und -frauen machen uns glauben, man könnte Gesellschaften einfrieren, aber Leben ist Veränderung und auch Gesellschaften verändern sich permanent.
Um die Angriffe auf die jüdischen Gemeinden etwas authentischer zu gestalten, bediente man sich gerne sogenannter Konvertiten – also Personen, die von der jüdischen zur römisch-katholischen Religion gewechselt sind. Johannes Pfefferkorn, ein Fleischhauer, war so ein Konvertit und stand im Dienst von Jakob Hoogstraeten, Großinquisitor und Prior der Dominikaner. Er verlangte, sicherlich auf Anweisung der Inquisition, dass die Bücher der Frankfurter Juden verbrannt werden müssten. Die Schwester Maximilians I, Kunigunde von Bayern, unterstützte dieses Vorhaben und der Kaiser genehmigte es. Da sich der Erzbischof von Mainz übergangen fühlte, setzte der Kaiser eine Kommission ein, die entscheiden sollte, ob die Bücher zu verbrennen seien oder nicht.
Reuchlins Gutachten „Ratschlag ob man den Juden alle ire buecher nemmen / abthoun und verbrennen soll“ wurde von der bischöflichen Kanzlei in Mainz der Inquisition zugespielt. Reuchlin sprach sich darin als Einziger gegen das Verbrennen aus und er erinnerte als führender Jurist seiner Zeit den Kaiser sogar daran, dass die Juden als Reichsbürger auch unter seinem Schutz stehen würden.
Daraufhin publizierte Pfefferkorn als Vertreter der Inquisition im Jahr 1511 den HandtSpiegel, eine Streitschrift gegen Reuchlin, in der er aus dem Zusammenhang gerissene Sätze von Reuchlins Gutachten verwendete. Reuchlin, damals ja oberster Richter im Schwäbischen Bund, war wütend und wendete sich an die kaiserliche Kanzlei, die nichts unternahm.
Deswegen publizierte Reuchlin für die Frankfurter Messe im Herbst 1511 eine Entgegnung, den Augenspiegel – das war der Beginn eines beinahe 10-jährigen Kampfes mit der Inquisition mit vielen Niederlagen und Siegen, bis der Prozess letztendlich bei Papst Leo X in Rom landete. Interessant ist, dass es ab diesem Zeitpunkt überhaupt nicht mehr um die Bücher der Frankfurter Juden ging. Die hatten sich inzwischen mit dem Kaiser Maximilian I geeinigt. Jetzt ging es um zwei sehr unterschiedliche Weltanschauungen. Jan-Hendryk de Boer nennt es einen Gelehrtenstreit. Die reaktionäre und verstockte Macht der Inquisition wollte auch dem damals sehr bekannten und in Gelehrtenkreisen in Europa hochgeschätzten Johannes Reuchlin ihre Macht beweisen. Man könnte ja Reuchlin durchaus mit einem Fernseh- oder Filmstar der heutigen Zeit vergleichen.
Ich denke, dass Reuchlin in späteren Jahren sicherlich manchmal bereut hat, dass er sich auf diesen Streit eingelassen hat. Andererseits war es für ihn auch undenkbar, Recht so zu beugen, wie das die Kölner Theologen und die Inquisition wollten. Das passte nicht in sein bereits sehr modernes Rechtsverständnis.
Der Großinquisitor Hoogstraeten lädt Reuchlin im Jahr 1513 sogar vor ein Inquisitionsgericht in den Mainzer Dom. Kurz vor der Urteilsverkündung muss der Prozess auf Anweisung des Erzbischofs von Mainz gestoppt werden. Daraufhin beauftragt der Papst den Bischof von Speyer, die Sache erneut zu verhandeln. Reuchlin wird freigesprochen. Diesen Freispruch beeinsprucht natürlich die Inquisition und der Prozess kommt nach Rom.
Obwohl die Inquisition unter dem Namen Pfefferkorns mehrere Streitschriften gegen Reuchlin verfasste, verbot der Kaiser, auf deren Druck oder um die Sache endlich zu beenden, alle Verteidigungsschriften Reuchlins. Daher publizierte dieser 1514 als eine Art Verzweiflungsakt die Briefe berühmter Männer (Clarorum virorum epistolae), um zu zeigen, welche Persönlichkeiten aus der geistigen Elite der Zeit hinter ihm standen. Spätestens seit der Veröffentlichung dieser Briefe wurde die Sache Reuchlin gegen die Kölner Theologen oder die Inquisition zu einer öffentlichen Angelegenheit und die gebildete Welte teilte sich in Reuchlinista – also Befürworter Reuchlins – und seine Gegner.
Zunächst sieht es auch in Rom sehr positiv für Reuchlin aus. Viele Persönlichkeiten wie Erasmus und selbst Maximilian I setzen sich beim Papst für Reuchlin ein. Und im Jahr 1516 votierte eine Sachverständigenkommission in der Sache mit großer Mehrheit für Reuchlin. Der Papst vertagt aber diese Entscheidung.
Obwohl auch der Medici-Papst Leo X immer in höchsten Tönen von Reuchlin sprach, verurteilte er nach langem Hin und Her den Augenspiegel im Jahre 1520. Eine sehr bittere Sache für Reuchlin. Einerseits, dass sein Gutachten, das gewiss rechtlich das profundeste war, nicht standhielt und andererseits finanziell. Reuchlin musste die gesamten Prozesskosten tragen, was für ihn den finanziellen Ruin bedeutete.
Offensichtlich war für dieses Urteil des Papstes auch die politische Situation in Deutschland zwischen 1517 und 1520 entscheidend: Luthers Thesen und der allgemeine Widerstand vieler Gemeinden gegen Rom spielten hier sicherlich eine Rolle.
Reuchlins Kampf ist deswegen auch heute noch sehr interessant, weil er versucht hat nicht einer Massenhysterie oder dem Druck der Straße nachzugeben, sondern weil er als einer der Ersten versucht hat, ein rechtlich fundiertes Gutachten abzugeben, das auch den Kaiser an seine Pflichten erinnerte und das seiner Überzeugung und seinen Werten entsprach. Reuchlin versuchte schon damals, Brücken zwischen den Religionen zu bauen und trat für eine gewisse Freiheit in der Religionsausübung ein.
Warum hat sich Reuchlin in seiner antisemitisch geprägten Zeit so vehement für den Schutz jüdischer Schriften eingesetzt?
Naja, ich habe ja vorher das Credo der Humanisten „Zurück zu den Quellen“ schon erwähnt. Außerdem war Reuchlin wie der von ihm sehr verehrte Pico della Mirandola als Kabbalist davon überzeugt, dass das Hebräische die Sprache Gottes sei und dass in der jüdischen Literatur und vor allem in der Geheimlehre, der Kabbala, eine Fülle an Geheimnissen zum Verständnis der göttlichen Offenbarung zu finden sein müssten. Außerdem suchte er so wie sein Vorbild Nikolaus von Kues nicht das Trennende, sondern das Gemeinsame in den großen Religionen. Ich bin überzeugt, dass in Lessings Nathan der Weise 200 Jahre später dieser Ansatz zu finden ist. Außerdem hatte Reuchlin nach Meinung des Rechtshistorikers Adolf Laufs bereits ein sehr modernes Rechtsverständnis und sprach daher der jüdischen Bevölkerung die gleichen Rechte wie allen übrigen Bürgern des Reiches zu.
Sehr oft wird Reuchlin in Zusammenhang mit den „Dunkelmännerbriefen“ erwähnt – was haben die mit ihm zu tun?
Wie erwähnt teilte der Prozess Reuchlins die damalige gebildete Welt in zwei Lager: die Befürworter Reuchlins und seine Gegner. Nachdem Reuchlin zu seiner Verteidigung im Jahr 1514 die Briefe berühmter Männer (Clarorum virorum epistolae) publizierte, wurden von seinen Befürwortern 1515 und 1517 anonym Die Dunkelmännerbriefe (Epistolae virorum obscurorum) veröffentlicht. Dies sind fingierte Briefe, die angeblich die Gegner Reuchlins an seinen Kölner Widersacher Ortwin Gratius schrieben.
Die Dunkelmännerbriefe sind also Fiktion. Sie sind in schlechtem Latein verfasst und ziehen mit ihrer Schilderung der sinnlichen und leiblichen Genüsse die Kölner Geistlichkeit in den Schmutz. Sie waren beißende Satire und die absoluten Bestseller im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, vor allem beim gebildeten Publikum. Obwohl Reuchlin mit der Publikation nichts zu tun hatte, hat sie ihm in Rom sicherlich nicht besonders genützt.
Wie ging dieser Prozess für Reuchlin aus?
Reuchlin ist davon nicht ungeschoren hervorgegangen. Natürlich, sich mit dem Inquisitor auf einen Rechtsstreit einzulassen, war nur in einer gesellschaftlichen Position eines Reuchlin möglich. Ich denke aber, dass sich auch Reuchlin zu Beginn über die Hartnäckigkeit der Inquisition und die Konsequenzen dieses Streits nicht im Klaren war. Je länger sich der Prozess in Rom hinzog, desto zurückgezogener und vielleicht auch depressiver wurde er. Auch langjährige Freunde hielten sich plötzlich bedeckt. Die Prozess- und Anwaltskosten in Rom brauchten sein Vermögen auf. In den letzten Lebensjahren war er eigentlich wieder verarmt und musste daher unterrichten und von den Einkünften als Universitätsprofessor leben.
In Intellektuellenkreisen wird aber Reuchlin seit Jahrhunderten als Vorbild für Verteidigung von Wahrheit und Gerechtigkeit, für Modernität und Menschlichkeit gegen ein korrupte und käufliche Welt gesehen. Eine Persönlichkeit, auf die Linz durchaus sehr stolz sein kann.
Als Schmelztiegel für Kunst, Forschung und Technik bemüht sich die Tabakfabrik Linz, Johannes Reuchlin eine Bühne zu bieten und die Johannes Reuchlin Gesellschaft vor Ort anzusiedeln. Warum ist die Tabakfabrik in Ihren Augen ein guter Ort für dieses Vorhaben?
Ich denke, dass diese Symbiose zwischen modernster Technologie, Wirtschaft und Kultur, wie sie die Tabakfabrik umsetzt, ganz gut zu unserem Reuchlin und den Humanisten passt. Mit Ausstellungen und Veranstaltungen versucht auch die Tabakfabrik, kritisch zu sein und Fragen zu stellen, die oft nicht in ein populistisches Schwarz-Weiß-Bild passen. Ganz sicher ist unser Reuchlin in so einer Umgebung bestens aufgehoben.
Zum Beispiel hat sich kaum eine Gruppe die neue Kommunikationstechnologie des Buchdrucks schneller angeeignet als die Humanisten und sie auch sehr bewusst eingesetzt. Auch die Tabakfabrik ist Vorreiter in neuen Technologien.
Und Johannes Reuchlin hat mit seinem Rechtsgutachten die Basis für eine neue Form der kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen gesetzt. Nicht zuletzt versuchte er Brücken zu schlagen zwischen den Religionen und Weltanschauungen. Und ich bin überzeugt, auch das passt gut in die Tabakfabrik.