Das Brucknerhaus, das heuer sein 45-jähriges Bestehen feiert, befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Tabakfabrik Linz. Im Sinne der guten Nachbarschaft widmen wir diese Ausgabe des Tabakfabrik-Blogs dem Internationalen Brucknerfest 2019, das heuer von 4. September bis 11. Oktober mit insgesamt 31 Konzerten über die Bühne geht. Die Gesamtaufführung aller neun Sinfonien Anton Bruckners steht dabei im Mittelpunkt. Genau 100 Jahre nachdem der Leipziger Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch mit der ersten zyklischen Aufführung aller Bruckner-Sinfonien aufwartete, bringt das Internationale Brucknerfest diese unter dem Motto „Neue Welten – Bruckner und die Sinfonik“ in ihrer Gesamtheit zur Geltung. Vor allem der Sinfonie hat Bruckner neue Welten erschlossen. Seine Werke waren zum Teil so kühn, dass ihm seine Zeitgenossen zunächst nicht folgen konnten. Erst mit seiner 7. Sinfonie in Leipzig – Bruckner war bereits 60 Jahre alt – gelang ihm der große Durchbruch. Im Gespräch mit Dietmar Kerschbaum, dem künstlerischen Vorstandsdirektor der LIVA, wandeln wir auf den Spuren des großen Meisters Anton Bruckner.
Warum widmet sich das Internationale Brucknerfest zum 45-Jahr-Jubiläum des Brucknerhauses und zum 195. Geburtstag von Anton Bruckner der Sinfonik in all ihren Spielarten?
Unser Ausgangspunkt war, dass der Nikisch-Zyklus, der ja hundertjähriges Jubiläum feiert, noch nie hier im Brucknerhaus gespielt worden ist. Das ist für mich eine ganz große Herausforderung. Es geht darum, zu zeigen, wie sich Bruckner in der Komposition verändert hat. Es gibt ja 18 Sinfonien von ihm in verschiedensten Fassungen, weil er sich selbst immer wieder in Frage gestellt hat. Und wir wollen den hundertjährigen Zyklus feiern – mit den besten KünstlerInnen und Orchestern – mit Inbal, Herreweghe, den Münchner Philharmonikern, Valerij Gergiev und natürlich dem Bruckner Orchester mit Markus Poschner. Ich glaube, das ist nicht nur eine Herausforderung, sondern auch ein schönes Geburtstagsgeschenk.
Als Bruckner im Herbst 1891 den Titel eines Ehrendoktors der Wiener Universität erhielt, bestand er ausdrücklich darauf, in der Promotionsurkunde „als Symphoniker“ bezeichnet zu werden, „weil darin stets mein Lebensberuf bestand“. Wie wurde Anton Bruckner damals wahrgenommen?
Man muss sich in diese Zeit zurückversetzen und wissen, dass Anton Bruckner erst mit der 7. Sinfonie zu Ruhm gekommen ist. Die Grundgeschichte wollen wir auch beim nächsten Brucknerfest ausarbeiten. Da gab es natürlich die Diskrepanz zwischen Brahms und Bruckner. Und dann gab es einen gefürchteten Kritiker namens Hanslick, der dann auch viel dazu beigetragen hat, dass Bruckner bis zu seiner 7. Sinfonie eigentlich nicht wahrgenommen worden ist. Also wenn man das heutzutage betrachtet ist das reinstes Mobbing. Das sind sehr spannende geschichtliche Anforderungen, die wir mit dem Brucknerfest auch haben, das ist ein unglaubliches Buch, das in fünf Kapiteln aufgearbeitet wird. Jetzt sind wir beim Kapitel zwei, wo wir die neuen Welten titulieren und zeigen, dass Bruckner hinausstößt in den Kosmos wie das Raumschiff Enterprise. Diese unentdeckten, unendlichen Weiten, die er in seiner Musik hat, übertragen sich auf das Publikum. Und ich entdecke immer mehr, wenn ich Bruckner höre, dass etwas mit mir passiert. Das ist das Schöne an der Musik und deswegen sind wir auch bereit, vieles zu tun, damit wir die Musik als Bildungssystem weiterverfolgen, um den Menschen dieses Analoge in die digitale Welt zu bringen. Ich liebe unsere digitale Welt, was sie erleichtert und wie sie unsere Arbeitsbereiche maßgeblich verändert. Was sich allerdings nicht ändert, ist die Musik und die daraus resultierenden Empfindungen. Und das ist mir ganz wichtig, dass das analog bleibt, dass wir einfach unseren Gefühlen wieder mehr vertrauen.
Sie haben die „neuen Welten“ bereits angesprochen. Inwiefern hat Anton Bruckner gerade in der Sinfonik „neue Welten“ erschlossen?
Zu der damaligen Zeit war Anton Bruckner unerreichbar, man hat ihn nicht fassen können. So wie jedes Genie. 20, 30, 50 Jahre ist er mit Sicherheit voraus gewesen, auch heute noch. Wir schreiben jetzt bald das Jahr 2020 und es gibt nichts mehr in dem Sinne. Also er ist im Sinfonischen für mich wirklich ein unglaublicher Meister gewesen.
Es ist die Gesamtaufführung aller neun Sinfonien von Anton Bruckner zu hören – warum wurde die chronologische Abfolge nach ihrer Fertigstellung gewählt, und nicht die numerische?
Wir wollen zeigen, wie sich Bruckner entwickelt hat in seiner Zeit. Damit erschließt sich auch, wie er sich in seiner Denkart verändert hat. Wir haben uns in der Dramaturgie damit befasst, wie man Bruckner quasi bei der Komposition über die Schulter schauen kann als Besucher. Und das passiert im Rahmen des Brucknerfests durch die Aufführung seiner Sinfonien in der Abfolge ihrer Entstehung. Dadurch sieht man, wie er sich entfaltet hat. Da gibt es unglaublich interessante Geschichten.
Das Brucknerfest bietet wieder ein umfassendes Programm auch abseits der Sinfonien Bruckners. Was sind die Highlights der diesjährigen Ausgabe?
Alle Programmpunkte sind meine Highlights, das ist wie wenn man bei einer Familie fragt, welches Kind man am liebsten hat, es geht nicht. Es ist jedes einzelne Konzert eine unglaublich schöne Reise durch die Zeit, durch die Vergangenheit, aber dann gleichzeitig mit den beteiligten Protagonisten auch sehr aktuell. Aber ich denke zum Beispiel an Eliahu Inbal. Er war ja lange Zeit Chefdirigent des Konzerthausorchesters Berlin, und die erste Schallplatte, die er mit diesem Orchester aufgenommen hat, ist die 8. Sinfonie gewesen, die Fassung von 1887. Und exakt nach 40 Jahren, wo er nicht mehr Chef dieses Orchesters ist, kommt er wieder mit demselben Orchester nach Linz und spielt an dem Abend jene Fassung die er als erste Schallplatte aufgenommen hat. Also Sie sehen, jedes einzelne Programm hat einen Anhaltspunkt, warum wir es machen. Ob Gergiev in St. Florian oder Beczała, einer der größten Tenöre unserer Zeit, der in Linz begonnen hat, begleitet von Helmut Deutsch, auch eine Koryphäe in der Liedbegleitung. Wir haben das Sinfonieorchester Estland mit Neeme Järvi, das Notos Quartett und natürlich den großen Pianisten Sir András Schiff. Und wir wollen jetzt nicht nur ein Programm abspielen, sondern dafür stehen, dass es eine Aussage hat, dass wir hier zeigen können wie Bruckner gesprochen wird, wie Bruckner riecht, wie er wahrgenommen wird und hautnah zu erleben ist.
Warum ist die Wahl auf den berühmten Architekten Wolf D. Prix als Festredner des Internationalen Brucknerfests 2019 gefallen?
Auch da müssen wir neue Wege gehen. Wir haben bis jetzt immer PhilosophInnen und MusikerInnen gehabt, die eine andere Sichtweise hatten. Wolf D. Prix ist für mich eine der höchsten Persönlichkeiten in der Architektur, die das Thema neue Welten ja auch definiert. Es geht um viel größere Ebenen. Es geht darum, dass man Kulturräume schaffen muss, um das Programm dementsprechend zu präsentieren. Das heißt, wir brauchen vorher einen Raum, ein Fassungselement. Und das, was wir als Raum sehen, können wir ja nicht wirklich wahrnehmen, weil, wie Wolf D Prix sagt, er wie ein Eisberg ist – ein Siebentel dieses Eisbergs ragt aus dem Wasser, der Rest ist unsichtbar. Und so sollte man auch Kulturräume schaffen. Wir bauen in unseren Kastensystemen nur 50-Quadratmeter-Wohnungen und das ist effizient, das ist wirtschaftlich, das ist der Tod. Wo soll man hier Inspiration fassen, wo soll man hier Lebensqualität haben? Das ist die Stagnation. Das ist genauso wie in der Musik und deswegen wollte ich heuer die Perspektive eines Weltenbauers wie Wolf D. Prix, um zu zeigen, dass wir hier einen Ruck brauchen, auch seitens der Politik.
Unter dem Motto „Bruckner und die Tradition“ wollen Sie das Brucknerfest in einem fünfjährigen Masterplan wieder an seine Ursprünge zurückführen. Warum?
Wir sind hier in einer Stadt in der Bruckner gelebt hat. Das ist einmal das Wichtigste, das ist ein USP. Und dem müssen wir uns stellen. Jetzt nicht nur wissenschaftlich, denn ich bin niemand, der die wissenschaftlichen Bücher abklappern möchte – ich möchte nur zeigen, dass man mit dieser Musik auch bewegen kann. Und wir sollten dazu stehen, dass wir mit dieser Musik Weltbewegungen machen können. In jeder Stadt der Welt gibt es irgendwo eine Bruckner-Partitur, eine Orgel, etc. – Bruckner kennt man. Und es ist mir wichtig, dass wir jetzt nicht Bruckner rauf und runter spielen, sondern vermitteln, in welche Richtung er gedacht hat, in welchen breiten Spektren sich seine Musik bewegt, was seine Inspiration gewesen ist. Und das wollen wir hier, an diesem Ort, tun. Es kann nicht sein, dass man weltweit Bruckner spielt und versteht, doch in Linz nicht. Es muss umgekehrt sein. Die Leute müssen wieder, wenn sie wirklich einen Bruckner-Bezug haben wollen, nach Linz ins Brucknerhaus kommen – als Pilgerstätte.
Die Tabakfabrik Linz ist eine unmittelbare Nachbarin des Brucknerhauses, wie schätzen Sie die Entwicklung des Industrieareals ein?
Das beantworte ich mit Wolf D. Prix. Für mich ist die Tabakfabrik ein Raum, der unfassbar ist. Und zwar sieht man hier oberhalb nur ein Gebäude, das inhaltliche Fundament bleibt unsichtbar wie bei einem Eisberg – ein gedachtes, monumentales Wissen zur Orientierung der Zukunft. Und ich denke mir, dass dies eine Reise ist, die teilweise auch in eine Unendlichkeit, eine unerforschte Wegrichtung geht. Die Tabakfabrik hat die Möglichkeit, diesen unendlichen Raum des Gedankenflusses aufzunehmen und zu verarbeiten. Und deshalb bin ich sehr stolz, dass wir als Nachbarn hier eventuell auch in der Musik diese Unendlichkeit verbinden und eventuell dadurch etwas bewirken können.