Lichtbänder eines Architekturjuwels

Würde man alle Fenster der Tabakfabrik Linz aneinanderreihen, ergäbe sich ein Band mit einer Länge von mehreren Kilometern. Allein die Fensterflächen des Zigarettenfabrikationsgebäudes (Bau 1) erstrecken sich über insgesamt 3000 Meter und sorgen im Inneren des Architekturjuwels für natürliche Helligkeit. Diese Lichtbänder müssen ständig gereinigt und gewartet werden – Gerhard Hlavac ist einer der Handwerker, der sich mit viel Liebe um die Fenster der Tabakfabrik kümmert.

„Beim letzten Auftrag habe ich bei 1600 Fensterscheiben zum Zählen aufgehört, gut 2000 Scheiben haben wir gemacht“, erzählt Hlavac. Der Glasermeister aus Pram im Innviertel steigt von seiner Leiter, mit der er auch die höher gelegenen Fensterflächen im Bau 1 erreicht. In seiner rechten Hand hält er ein Messer, das man zum Butterbrotschmieren verwenden könnte. Es handelt sich freilich um ein so genanntes Kittmesser, mit dem Hlavac Fensterkitt aufträgt, nachdem die Schlosser alles vorbereitet und allfälligen Rost entfernt haben. „Der Rost zerdrückt die Scheiben, vor allem die äußeren. Über die Jahre kommt dann doch die Feuchtigkeit beim Kitt herein und der Rost quillt auf. Der drückt von der Unterseite auf das Glasband, dann bekommt die Scheibe einen Riss. Bis sie kaputt wird, dauert es oft Jahre, aber sie wird kaputt.“

Glasermeister Gerhard Hlavac hat schon tausende Fenster der Tabakfabrik bearbeitet. Foto: Tabakfabrik Linz / Christoph Weiermair

Und dennoch sind die Fenster der Tabakfabrik – so wie das gesamte Gebäude – von einer überragenden Qualität und Haltbarkeit, gerade angesichts ihres Alters von mittlerweile knapp 90 Jahren. Mit den durchlaufenden Fensterbändern sorgte Architekt Peter Behrens für die gleichmäßige Beleuchtung der Arbeitssäle. „Dem damaligen Stand der Technik entsprechend, kamen Stahl-Glas-Fenster zum Einsatz. Die Lüftungsflügel der Fenster wurden aus Spezialprofilen hergestellt, die im geschlossenen Zustand über eine gute Dichtheit verfügen. Das durch hohe Luftfeuchtigkeit und aufgrund der Klimatisierung der Räume entstehende Kondenswasser an den Doppelfenstern setzte die Verwendung von Fensterbrettern aus wasserunempfindlichen Material voraus. Diese sind aus Kunststein hergestellt, haben eine Länge von 3,5 Metern und verfügen jeweils über eine Längsrinne zur Sammlung und Ableitung von Kondenswasser“, schreibt Andrea Bina im Band „Tabakfabrik Linz. Kunst – Architektur – Arbeitswelt“, der im Jahr 2010 herausgegeben wurde.

Hlavac trägt an einem Außenfenster im Bau 1 neuen Kitt auf.

Den Kitt, den Hlavac mit geübten Handbewegungen an den Fensterumrahmungen aufträgt, könne man sogar essen, es handle sich dabei um ein reines Naturprodukt aus Leinöl und Kreide. Er hat die Funktion, die Scheibe sowohl abzudichten als auch festzuhalten. Bei der Verarbeitung ist der Kitt ähnlich weich wie Plastilin, erst nach etwa einem halben Jahr ist die Masse komplett ausgehärtet und kann lackiert werden. „Heute ist das im Grunde nicht mehr zeitgemäß, weil es keine Stahlfenster mehr gibt, viele Glaser kommen damit gar nicht mehr in Berührung. Dabei ist das eine schöne Sache, Kitt hält eigentlich ewig, wenn er nicht durchfeuchtet wird.“

„Das Antlitz dieses Bauwerkes sagt jedermann, was es ist – ein Fabriksbau. So wie sich im Innern Geschoß über Geschoß, Arbeitssaal an Arbeitssaal reiht, so gibt auch das Äußere diesen horizontalen Rhythmus wieder, der nur dort unterbrochen wird, wo die Stiegenhäuser und Aufzüge mit ihren Längsfenstern die vertikale Bewerbung innerhalb des Gebäudes auch im Äußeren zum Ausdruck bringen“, heißt es in einer Baubeschreibung der Architekten Peter Behrens und Alexander Popp aus dem Mai 1933. Foto: Tabakfabrik Linz

Aus architektonischer Sicht bemerkenswert ist, dass die Fenster der Tabakfabrik den Rang eigenberechtigter Glieder erlangten und dem Bauwerk seine grundlegende Note verliehen. „Die neuen Linzer Betriebsbauten bestätigen überzeugend die Kraft der Fenster als künstlerisches Ausdrucksmittel, sie lassen aber auch erkennen, dass hochwertige Konstruktionsarbeit geleistet werden musste, um dem Gedanken des Architekten und den Anforderungen des Betriebs in gleichem Maße gerecht werden zu können“, heißt es im Band „Die Neubauten und Betriebseinrichtungen der Tabakfabrik in Linz“ aus dem Jahr 1936.

Und weiter: „Die höchsten Anforderungen wurden an die Fenster der Zigarettenfabrik gestellt, deren Räume zum überwiegenden Teile feuchtwarm klimatisiert sind. Als Erschwerung trat noch die Bedingung dazu, daß die nach Innen geöffneten Fensrter die Flucht der Wandpfeiler nicht überragen durften, um den an den Außenwänden angeordneten Betriebseinrichtungen nicht im Wege zu sein. Da eine Verengung der Sprossenteilung die Lichtergiebigkeit verringert, die Anzahl der Flügel unnütz vergrößert und kleinliche Unruhe in die Wucht des äußeren Eindruckes getragen hätte, ergab sich die Notwendigkeit, die immerhin fast 70 Zentimeter breiten Flügel um eine lotrechte Mittelachse drehbar als Wendeflügel auszubilden. Die Dichtung solcher Flügel, die zum Teil nach außen und zum Teil nach innen aufgehen und daher den Anschlag wechseln müssen, gehört zu den schwierigsten Aufgaben des Fensterbauens, die mit den üblichen Profilen nur unvollkommene und teure Lösungsmöglichkeiten bieten.“

Wenn aus Lichtbändern Leuchtbänder werden: Der Bau 1 der Tabakfabrik Linz bei Nacht. Foto: Tabakfabrik Linz

Die Vergabe der Aufträge für die Fenster der Tabakfabrik ist genau dokumentiert: Die 8,6 Meter hohe und abgewickelt 102 Meter lange Glaswand des Kraftwerks zum Beispiel wurde zum Beispiel vom Schlossermeister Wilhelm Schmidt in Wien-Leopoldstadt realisiert. Der Auftrag für die diffizilen Fenster mit Wendeflügel für die Zigarettenfabrikation ging an die deutsche Klöcknerwerke AG. Dabei hätte der Auftraggeber österreichische Ware bevorzugt, doch der Preisunterschied fiel „so schwer ins Gewicht, daß0 man darüber nicht hinweggehen konnte“.

Die Fensterbänder an den Stiegenhäusern tragen die vertikale Bewegung im Inneren des Gebäudes nach Außen. Foto: Tabakfabrik Linz

Für Glasermeister Gerhard Hlavac ist die Tabakfabrik ein Einsatz- und Arbeitsort, den er ganz besonders schätzt: „Für mich hat das Gebäude etwas Einzigartiges, ich komme immer wieder gerne hierher.“ Wohl auch aus ganz pragmatischen Gründen: Die Tabakfabrik ist mutmaßlich einer der größten Fensterkitt-Abnehmer in Österreich. „Insgesamt werde ich schon ein paar Tonnen im Gebäude verarbeitet haben“, meint Hlavac.  Und der Auftrag ist praktisch nie abgeschlossen, denn allein von den geschätzt 10.000 einzelnen Fensterscheiben, die im Bau 1 verbaut sind, bekommt gefühlt wöchentlich eine einen Sprung.

Auch das Reinigen der Fenster ist eine Art Sisyphusarbeit. Zu Zeiten der Zigarettenproduktion sollen zwei Mitarbeiter der Austria Tabak ausschließlich damit beschäftigt gewesen zu sein, die Fenster zu reinigen. Ob sie im Jänner im Erdgeschoß von Bau 1 an der Stiege anfingen und im Dezember im fünften Obergeschoß an der Stiege D angelangt waren, ist allerdings nicht überliefert.

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