Der Belmondo-Effekt

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Das gut funktionierende Geschäftsmodell von Salzburg ist ein Zitat auf die Vergangenheit – Bürgertum, Tradition, klassische Musik, Jedermanns Welttheater und die Kugeln Mozarts bestimmen das Image der Stadt an der Salzach. Und vielleicht ist die viertgrößte Stadt Österreichs das genaue Gegenteil der drittgrößten, denn das Wesen von Linz ist eines, dass sein Glück, ebenfalls erfolgreich, in der Zukunft sucht. Das Publikum kann sich zwischen Heimatfilm und Science Fiction, zwischen „Sound of Music“ und „Total Recall“ entscheiden. In den Hauptrollen Salzburg und Linz. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges gab es in Linz intensive Bestrebungen, Adolf Hitlers sogenannte „Führerstadt“ in eine weltoffene, liberale und soziale Musterstadt zu verwandeln. Sozusagen von Hitropolis zu Metropolinz. Damals wurde der Grundstein gelegt für einen permanenten Prozess der Transformation, mit dem auch die Wandlung von der schmutzigen Industrie- hin zur zukunftsfreudigen Lebensstadt einherging. Die verrußte Arbeiterstadt entwickelte sich sukzessive in eine Hightech-, Industrie- und Kreativstadt mit Herz und Seele, Ecken und Kanten, Schwächen und Stärken.

Linz hat sein Hauptprogramm gewählt: Science und Fiction statt Heimatfilm

Diesen Geist der Erneuerung hat Linz verinnerlicht – neben vielen anderen kleinen und großen Initiativen, Vereinen, Gruppen, Betrieben, Einzelpersonen und Ich-AGs künden davon weithin sichtbar die voestalpine („One step ahead“) und die Ars Electronica – und das höchst erfolgreich, wie nun auch die Ernennung der Stadt zur UNESCO City of Media Arts zeigt. Seit Jahrzehnten bestimmt das Porträt einer Stadt im Wandel die Identität von Linz. Stehende oder bewegte Bilder, die bei jeder Live-Schaltung nach Linz zum Einsatz kommen, bilden ein einfaches Strickmuster: Studiogast – im Hintergrund das AEC oder die voestalpine. Das digitale Leuchtfeuer an der Multimedia-Fassade des Ars Electronica Centers oder das (veraltete) Bildnis vom Funken sprühenden Industriehochofen illustrieren die Linzer Seele – Zukunft durch Gegenwart, Aufstieg durch Arbeit, Industrie durch Technologie, Kunst und Kultur. Linz steht für die zukunftsträchtige Verschmelzung von klassischen und kreativen Industrien zu einer krisenfesten Legierung, die Arbeitsplätze schafft, Berufsfelder neu definiert und Wohlstand sichert. Vorhersehbar war deshalb auch das klare Ja zum Neubau der Linzer Eisenbahnbrücke beim Volksentscheid 2015 (rund 68 Prozent der LinzerInnen stimmten für den Abriss der alten Brücke). Dem Neuen wird in Linz der Vorrang gewährt. Noch lockt das Modell der fortschrittlichen Lebensstadt – 2015 wuchs Linz auf über 200.000 EinwohnerInnen an und bietet 215.000 Menschen einen Arbeitsplatz.

Destruktive Interferenz

Doch der Magnetismus der oberösterreichischen Landeshauptstadt ist ein Phänomen, das seine Kraftwirkung aus einer Gesellschaft bezieht, die sich zunehmend weniger zukunftsfreudig und progressiv zeigt. Gerade jetzt, wo die Elektroautos von Tesla auf den Markt kommen, sehnen sich immer mehr nach einer Heimatfilm-Kutschfahrt in Dirndl und Lederhosen.

„Sous les pavés, la plage!“ | „Unter dem Bürgersteig – der Strand!“ Dieser berühmte Spruch, der sich 1968 wie ein Lauffeuer verbreitete und zum Inbegriff subkultureller Lebenskraft, zum Symbol für die Rückeroberung der Stadt als demokratischer Raum und zum Sinnbild für die Macht der Imagination wurde, verliert also gegenwärtig immer mehr an Bedeutung. Nun ist der Geist der 68er-Bewegung aus der Mode gekommen, die Linke konservativ geworden. Die urbanen Milieus von heute träumen nicht mehr vom Strand unter den Pflastersteinen, experimentieren nicht mehr mit alternativen Lebensentwürfen. Sie sehnen sich nach Konformität und den Werten der 50er Jahre: Sicherheit, Status, Struktur. Vieles erinnert heute an die Zeit des Biedermeier – der Rückzug ins Private, die Flucht ins hausbackene Idyll, die Rückbesinnung auf Tradition, bürgerliche Ideale und Familiensinn, der Verzicht auf Selbstverwirklichung zugunsten der Wahrung von Lebensstandards. Davon zeugen die Versuche, zumindest in den eigenen vier Wänden eine heile Welt zu schaffen, die das globalisierte Gefüge in großem Maßstab nicht (mehr) bieten kann. Die zeitgenössische Bohème findet den Sinn des Lebens in der Bestellung des eigenen Gartens, erfreut sich an selbstgemachtem Käse und schwärmt für Lehmbauten.

Mentale Schubumkehr

Man erkennt die Fäulnisflecken am Gesellschaftsportrait mit freiem Auge. Die Stimmung und Verfasstheit einer Gesellschaft manifestiert sich vor allem in gegenwärtigen Projektionen der Zukunft. Wer heute nach vorne blickt sieht Klimawandel, Kriege, Katastrophen, Flüchtlinge und Bedrohungen. Religionen, Roboter und Reiche wollen uns ans Leder. Der Fokus ist auf das Negative gerichtet. Die Zukunft, die wir uns heute ausmalen, erscheint erbärmlich. Wenn es hoch kommt wird sie nur ein bisschen schlechter als die Gegenwart. Und das Schlimmste daran ist – wir führen den Pinsel selbst. Die dystopische Zukunft wird neonfarben, naturalistisch und mit Akribie im Großformat aufgebracht – beinahe in einem weltumspannenden Rahmen. Gerade industrieorientierte und zukunftsgerichtete Regionen wie Oberösterreich und Linz, aber auch ein Europa, das sich innovationsfreudig gibt oder gab, werden mit dieser Haltung zu kämpfen haben und deren Auswirkungen viel deutlicher spüren als konservative, rückwärtsgewandte Nationen, Staaten, Länder, Bezirke, Städte und Dörfer.

Deshalb gilt es, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, damit das von Medien und Stammtischen vorhergesagte Attentat auf die sozialen, liberalen, demokratischen und fortschrittlichen Werte Europas vereitelt wird. Etwa durch die Einleitung einer selbstzerstörenden Prophezeiung, bei der sich der Betreffende – im Gegensatz zur selbsterfüllenden Prophezeiung – so verhält, dass die Prophezeiung der reaktionären, nationalen und depressiven Despotie eben gerade nicht in Erfüllung geht. Es geht darum, Deutungshoheit zu erlangen, positive Visionen zu generieren und diese zu erzählen – oder stärker als z.B. Salzburg unter den Folgen dieser Tendenzen zu leiden. Als Spross einer Bergarbeiterdynastie aus dem Hausruck weiß ich: Diamanten werden unter Druck geboren – die Rahmenbedingungen passen also.

Glück auf: Die Tabakfabrik Linz als urbane Mine für zukunftsträchtige Rohstoffe

Nach dem Vorbild der Kumpel aus den Minen besteht die Aufgabe der Tabakfabrik Linz darin, nach Bodenschätzen zu suchen und diese zu bergen. Gesellschaftliche Grundstoffe, die für eine stetige Erneuerung der Gesellschaft unerlässlich sind. Schätze, die als Erkenntnisse, Utopien oder Visionen gehandelt werden und nicht fossil sind. Werte, die durch Kunst, Kultur, Forschung oder Bildung entstehen und sich durch Förderung vermehren, anstatt sich durch Abbau verringern. So wie es seit der digitalen Gründerzeit Inkubatoren für Pioniergeist und Vernetzung gibt, etwa Coworking-Spaces oder Digital Hubs, erfordert es auch im technischen und industriellen Sektor derartige Triebfedern für Innovationskraft. Heute sind Industrieanlagen keine Milliardeninvestition mehr, weil Maschinen wie 3D-Printer immer günstiger werden und längst den Consumer-Markt erobern. Was wir demnach brauchen ist eine Ausbildungs- und Arbeitskultur, die Kreativität fördert, die Phantasie anregt, Forschung als Rohstoff begreift und neue Vernetzung schafft. Als Standort der Medienagenturen, Netural, Ars Electronica Solutions und des Studienzweigs Fashion & Technology, sowie als künftige Heimstätte des Valie Export Centers, das den gesamten Vorlass der Performance- und Medienkünstlerin für WissenschaftlerInnen zugänglich macht, spielte die Tabakfabrik auch eine ausschlaggebende Rolle für die Auszeichnung der Stadt Linz mit dem mit dem Titel „UNESCO City of Media Arts“ und die Aufnahme in den illustren Kreis des „UNESCO Creative Cities Network“. Die Bewerbung um diesen Titel betonte mit Nachdruck die Bedeutung der Tabakfabrik als eines der prestigeträchtigsten Stadtentwicklungsprojekte von Linz, das die Zukunft der Region maßgeblich prägen wird. Denn im internationalen Wettstreit um die kreative Klasse braucht es derartige Leuchttürme, die das schöpferische Potential ihrer Stadt bündeln, fördern und sichtbar machen. Die Neupositionierung der Tabakfabrik Linz entfaltet dabei auch große Symbolwirkung: Ein Relikt des industriellen Zeitalters wird zum Sinnbild für Aufschwung durch Wandel und die Innovationskraft kreativer Industrien.

Born to transform: Extrovertierte Extravaganz als leibhaftige Ausprägung

Während die Tabakfabrik Linz als eines der innovativsten Bauwerke der internationalen Moderne in Österreich unter Denkmalschutz konserviert werden konnte, so ist dies für den Geist der Erneuerung nicht möglich. Deshalb lag der Fokus bis dato auf der Darstellung der inhaltlichen Neupositionierung des Architekturjuwels, wurde das Innere nach außen gestülpt und sichtbar gemacht. Doch die nächste Bauetappe verlangt nach einer Verkörperung, nach physischer Inkarnation, nach einem Leitbild und Leuchtturm im wörtlichen Sinn.

Denn diese Transformationsphase betrifft jene nicht denkmalgeschützten Gebäude der Tabakfabrik, die abgebrochen und neu erschaffen werden dürfen und müssen, um sie adäquat an die zeitgenössische Wirkungsweise der Fabrik anzupassen. Dies betrifft im Westen den sogenannten Bau 3, im Osten die Zwischenmagazine und die Außenfläche der FALKlandinsel. Es liegt in der Natur der Sache, dass gerade diese Bauetappen für Reibung sorgen können. Und Reibungshitze kann man gut gebrauchen, wenn man, wie die Tabakfabrik Linz es will, ein Leuchtfeuer der neuen Moderne entzündet. Die Soziologie der Stadt und des Fabrikareals verlangt nach Tatkraft, Mut und Risikobereitschaft. Die Tabakfabrik Linz als ein Quellgebiet der Kreativität braucht deshalb auch eine architektonische Entsprechung, eine neugebaute Einfassung, die ihre Funktion verkörpert, verstärkt und in Kombination mit dem Behrens-Bau international sichtbar wird. Nichts anderes als eine fest verankerte soziale Plastik darf als leibhaftige architektonische Ausprägung in den Linzer Himmel wachsen. Eine aus Abbruchtrümmern geborene Ikone, die diesem Ort und seiner vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung für Linz Rechnung trägt.

Und ja, wir wissen: Wer bloß nach einem auf Event- und Spektakelkultur fixierten Marketingsymbol giert, droht zu scheitern. Aber wir wissen auch: Architektur kann, wenn die Rahmenbedingungen passen, zu einem Motor für die Wirtschafts- und Stadtentwicklung werden. Wir wissen: die Tabakfabrik ist kein singuläres Zaubermittel, aber ein weiterer wichtiger Schritt in die richtige Richtung von Linz. Und wir wissen was der Volksmund weiß: Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben!

Die Neugestaltung der Tabakfabrik kann als das Erreichen eines nächsten Linzer Levels gesehen werden und dadurch als Katalysator des wirtschaftlichen Strukturwandels in Richtung Neoindustriealisierung dienen. Dies wird auch die ökonomische Aufwärtsspirale in schnellere Drehung versetzen und den urbanen Charakter der Stadt formen. Eine gleichermaßen wichtige Destination für MieterInnen, Einheimische und TouristInnen. Um dieses lohnende Ziel zu erreichen bedarf es aller Anstrengungen – Höchstleistung, Weitsicht und Wagemut. Und kein überzeichnetes potemkinsches Dorf, das die pittoreske Szenerie des Heimatfilmes mimt.

Belmondo statt Bilbao

Belmondo – übersetzt: Schöne Welt! Der Begriff Belmondo-Effekt beschreibt einerseits Zuversicht in die Zukunft, geboren aus der Gewissheit, dass unsere schöne neue Welt nicht zwangsläufig Aldous Huxleys berühmter Albtraumvision entspricht. So wie er seinem düsteren Science-Fiction-Klassiker 30 Jahre später selbst den Boden entzieht, indem er mit dem Roman „Eiland“ ein positives Gegenbild zur „Schönen neuen Welt“ entwirft, beflügelt der Belmondo-Effekt heute gezielt den Glauben an die Gestaltung einer besseren Zukunft. Belmondo ist gleichzeitig auch der Name eines Schauspielers, der als Darsteller, Tollkühnheit und Wagemut mit großer Leidenschaft auf der Leinwand verkörperte und der als ein Vorreiter der Nouvelle Vague (Neue Welle) Filmgeschichte schrieb.

007 und nicht 08/15

Deshalb, ihr InvestorInnen, Bauherren, Baufrauen und ArchitektInnen: präsentiert uns Prototypen und nicht Katalog- und Lagerware. Geht nicht ins Archiv sondern ins Labor. Verschont uns mit Nachhaltigkeit und erfreut uns mit Vorhaltigkeit. Beschenkt uns nicht mit Styropor und Stroh, seid 007 und nicht 08/15. Denkt an Linz und nicht an euch. Nehmt die Üblichen und Verdächtigen nicht in eure Gemeinschaft auf. Nehmt auf was wir von euch wollen: Antworten auf der Höhe der Zeit und nicht zeitlosen Kompromiss, offene Strukturen für eine offene Gesellschaft. Wir wollen Ja-Sager und keine ABERtare. Zeigt uns Neugier und nicht nur Gier, wir wollen eure Höchstleistung und eure besten Angebote.

Linz, wenn jemand fragt wofür du stehst, sag fürAmore, Amore!

Es geht um viel, Linz, darum nutze die Möglichkeit, erkenne die Chance: sei verwegen Linz, sei Avantgarde – setze an zum Sprung auf einen Platz am europäischen Stockerl und werde „First of the Second Cities“. Der Startschuss ist zugleich die Zielgerade, er muss laut sein und internationales Echo erzeugen und aus einem Colt kommen wie in Dirty Harry, Lara Croft oder Jean Paul Belmondo verwenden würden. Das Mündungsfeuer muss so sichtbar sein wie die Flamme der voestalpine – die durch das Abfackeln von Prozessgas entsteht und die Linzer Nacht erhellt. Feuer frei!

Chris Müller-bergmann (CMb)

Direktor für Entwicklung, Gestaltung und künstlerische Agenden

Tabakfabrik Linz

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